Soziale Bewegungen nach 1989 in Europa und Nordamerika

Die Situation der Sozialen Bewegung um 89 und ihr Verhältnis zur Marx’schen Kritik

Wie die kommunistischen Parteien, waren auch die sozialen Bewegungen in Europa und die New Left in Nordamerika, obwohl in der Nachkriegszeit bereits in kritischer Distanz zu den Ländern des Realsozialismus und zum Parteikommunismus entstanden, vom Zusammenbruch des Realsozialismus und der allgemeinen Delegitimierung radikaler Gesellschaftskritik betroffen. Unmittelbar nach Mauerfall tritt eine Art Pause ein, in der es keine zumindest internationalen relevanten sozialen Bewegungen gab. Auch die verschiedenen „Teilbereichskämpfe“, die in der BRD in den 1980er Jahren noch Hunderttausende auf die Straßen gebracht hatten – etwa die Hausbesetzerbewegung und die Autonomen, Friedens- und Antikriegsbewegung, Anti-AKW und Anti-Atombewegung oder die 35-Stunden-Woche – erfuhren nach dem Epochenumbruch von 1989 einen Niedergang. Alternative und zivilgesellschaftliche Milieus verschwanden, große politische Mobilisierungen gelangen kaum noch, und die rebellischen Generationen von Jugend-, Protest und Subkulturen der Nachkriegszeit wurden mit der Technokultur erstmals von einer weitgehend unpolitischen Szene abgelöst.

Allerdings hatte die Theorieproduktion innerhalb der Sozialen Bewegungen bereits in den 1980er Jahren zunehmend an Bedeutung verloren. Obwohl die Neuen Sozialen Bewegungen im Aufbruch um 1968 noch maßgeblich zur Erneuerung der Marx’schen Gesellschaftskritik beigetragen hatten, wurde nur mehr recht vermittelt und selektiv auf Marx Bezug genommen. Zudem hatte in den 1970er Jahren durch eine Reihe von „Turns“ in der Gesellschaftstheorie (Cultural Turn, Communicative Turn etc.) sowie durch den Post-Strukturalismus eine Art Wachablösung in der Gesellschaftskritik stattgefunden und eine Pluralisierung eingesetzt. Durch diese Entwicklung entstanden auch in der Theoriebildung und in der politischen Ausrichtung und Orientierung der Sozialen Bewegungen regelrechte Teilbereiche, die auch als Identitätspolitiken bezeichnet werden und eine auf die Arbeiterklasse ausgerichtet Politik abgelöst haben: Feminismus, Gender- und Queer-Studies, Postkolonial-Studies und Antirassismus, Antifa und Antirassismus, Ökologie und Klima, Tierrechte usw. Zwar blieb der Bezug auf Marx‘ Kritik ein gemeinsamer Hintergrund, der Bezug war aber nur einer unter anderen und weit weniger zwingend als noch in den 1970er Jahren.

Die 90er Jahre: Globalisierungskritik, Akademisierung und „NGOisierung“

Die verschiedenen Theoriestränge, die in den 1980er Jahren für Politisierungs- und Bildungsprozesse innerhalb der Sozialen Bewegungen sowie für ihre politischen Praxen wirksam waren, erfuhren in den 1990er Jahren eine weitere Akademisierung. Während Marx zunehmend aus den Lehrplänen verschwand und, vor allem in Deutschland, nur mehr in den Nischen der Universität oder gleich ganz außerhalb angeeignet wurde, gelang vor allem den vom Post-Strukturalismus beeinflussten Kritiken eine gewisse akademische Karriere.

Ende der 1990er Jahre entstand mit der globalisierungskritischen Bewegung wieder eine breite und international relevante Bewegung. Sie führte z.T. zu einer Institutionalisierung in Nichtregierungsorganisationen (aus dem Engl. NGO); am bekanntesten ist sicher das Netzwerk Attac. Überhaupt erfuhren in dieser Zeit soziale und zivilgesellschaftliche Bewegungen, aber auch die etablierte Politik, eine regelrechte „NGOisierung“. Zum Kristallisationspunkt der Globalisierungskritik wurde eine Reihe von „Gipfeltreffen“ um die Jahrtausendwende. Obwohl die Gipfeltreffen der Industriestaaten sowie die Treffen von IWF und Weltbank schon seit Jahrzehnten regelmäßig von Protesten begleitet worden waren, erhielten diese Proteste nun, ausgehend von den Protesten gegen das WTO-Treffen in Seattle 1999, eine Dynamik, die einen neuen und geradezu globalen Zyklus sozialer Kämpfe erwarten ließ. Der Kampf um die Globalisierung schien das beherrschende Thema des 21. Jahrhunderts zu werden, die Weltsozialforen wurden sogar als „Vierte Internationale“ bezeichnet.

Im Umfeld dieser globalisierungskritischen Bewegung, aber auch allgemein in der öffentlichen Diskussion, erlebte auch Marx eine Renaissance. Anknüpfungspunkt war die globale Dimension des Kapitalismus und die „One World des Kapitals“, oft im Rückgriff auf ältere Diskussion wie die 3.-Welt-Bewegung (auch Eine Welt Bewegung) oder die Befreiungstheologie sowie in Verbindung mit aktuellen Theorieströmungen wie etwa dem Post-Operaismus oder dem Zapatismus.

2001: Das vorzeitige Ende der globalisierungskritischen Bewegung

Die Dynamik fand nach dem G8-Gipfel in Genua 2001 sowie durch die Anschläge von 9/11 ein jähes Ende. Die sozialen Bewegungen sahen sich plötzlich mit einer Reihe neuer Kriege, der Rückkehr der Religion und einem „Kampf der Kulturen“ konfrontiert. Einzig die Friedensbewegung und Anti-Kriegsproteste erlebten in der Folge in Europa und Nordamerika einen Aufschwung.

Für politische Aktivierung und Mobilisierung werden zunehmend digitale und soziale Medien wichtig, auch als Gegenstand kritischer Analysen und von Medientheorie, für die mitunter auf Marx‘ Kapital und vor allem auf marxistische Medientheorien zurückgegriffen wird.

Ebenfalls zunehmend wichtig werden – auch und gerade außerhalb von Europa und Nordamerika – Klima, Ökologie und Extraktivismus. Die “ökologische Frage“ wird dabei explizit in den Kontext sozialer Fragen wie globale Ungleichheit und Ausbeutung, Vertreibung und Migration gestellt. Überhaupt geht es zunehmend darum, die Überlagerung und Intersektionalität verschiedener Herrschafts- und Machtverhältnissen entlang der Achsen „class, race and gender“ wahrzunehmen und die sozialen Kämpfe darauf auszurichten.

2007/2008: Die Finanzkrise und ihre Folgen

Erst mit der Finanzkrise 2007/2008 erlangten die Sozialen Bewegungen wieder eine internationale Dimension und eine Breite, die mit der globalisierungskritischen Bewegung vergleichbar ist. Sie richteten sich nunmehr allerdings gegen die Auswirkungen des Neoliberalismus und die Krise des Finanzkapitalismus und ihre Folgen, vor allem gegen die Austeritätspolitik und die „technokratische Wende“ des Neoliberalismus. Auch Marx erlebte nun, nach der Diskussion um die Globalisierung, eine zweite Renaissance, und zwar erneut sowohl innerhalb der sozialen Bewegungen als auch allgemein im öffentlichen Diskurs. Auf Marx wurde nun vor allem zur Bestimmung des Finanzkapitals und des fiktiven Kapitals und ihre Bedeutung für kapitalistische Krisen zurückgegriffen, aber auch zur Analyse der ökonomischen, politischen und sozialen Folgen der Krisen und der Krisen“lösungen“. Drei Bereiche erfuhren dabei im Umfeld der Sozialen Bewegungen besondere Aufmerksamkeit: 1. Schulden und Austerität als ökonomisches wie politisches Mittel der Ausbeutung und Herrschaft, 2. Neue Formen der Ent- und Aneignung, der Ausbeutung und der Umverteilung, und 3. Alternative, solidarische Formen der Ökonomie und der Commons.

2011ff: Rückkehr des Politischen und Aufstieg des Rechtspopulismus

Während die Finanzkrise zu eher autoritären Krisenlösungen führte, schien 2011/2012 durch weltweite Platzbesetzungen, die Occupy Bewegung, den Arabischen Frühling sowie durch eine Reihe von Riots in Paris, London und Athen plötzlich eine „Rückkehr des Politischen“ angebrochen zu sein. Nachdem 1989 vorschnell das „Ende der Geschichte“ und der Ideologien ausgerufen worden war, sahen sich die Sozialen Bewegungen weltweit für einen kurzen Augenblick und völlig unerwartet im Aufwind.

Die weitere Entwicklung war allerdings allseits ernüchternd, selbst – oder gerade – dort, wo es wie in Südamerika oder in Griechenland zu Regierungen mit Beteiligung linker Parteien kam. Mittlerweile sind die Sozialen Bewegungen sogar mit einem Siegeszug rechtspopulistischer und religiöser, autoritärer und nationalistischer Kräfte konfrontiert, die ihrerseits den Charakter regelrechter Bewegungen und einer „Anti-Zivilgesellschaft“ annehmen. In einigen Ländern kam es, nach der technokratischen Wende des Neoliberalismus, sogar zu dessen rechtspopulistischer Übernahme.
Auch zur Selbstverständigung über diese „Zeit der Monster“ (Gramsci) wird auf Marx zurückgegriffen. Die Frage ist zum einen, ob der Verlust oder die Verdrängungen der sozialen Frage und der „Klassenfrage“ eine ideologische Adressierung derjenigen ermöglichte, für die einst die klassische Linke einzutreten beanspruchte. Zum anderen ist die Frage, inwiefern ökonomische Krisen mit dem Aufstieg autoritärer Kräfte einhergehen und verkürzte Formen der Kapitalismuskritik und ideologische Verarbeitungen und Krisen“lösungen“ wie Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungstheorien hervorbringen. Allerdings wird dabei weniger auf Marx selbst zurückgegriffen als auf von ihm beeinflusste Gesellschaftstheorien, etwa auf die Überlegungen zu Faschismus und Massenpsychologie in der Kritischen Theorie oder auf die sog. Bonapartismus-Theorie, die auf Marx‘ Text Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte zurückgeht.

Durchgehende und lose Stränge in Bezug auf Marx

Innerhalb der Sozialen Bewegungen wurden nach 1989 neben den aktuellen Themen bestimmte Stränge kontinuierlich im Rückgriff auf Marx diskutiert. Durchgehend war die Erschöpfung des Fordismus Ende der 1960er Jahre und die Frage, inwieweit es – zumindest in den klassischen Industrienationen – eine post-fordistische, neoliberale und finanzkapitalistische Re- und Umstrukturierung der Gesellschaft gibt, mit Formen post-fordistischer Produktion und zunehmender Prekarität der Arbeit und der Reproduktionsbedingungen, mit neuen Formen der Ausbeutung und Aneignung, neuen Technologien bis hin zu einem „Digitalen Kapitalismus“, aber natürlich auch mit neuen Subjektivitäten und sozialen Kämpfen sowie, nicht zuletzt, neuen Möglichkeiten für eine emanzipatorische oder auch revolutionäre Politik.

Zurzeit wird in den Sozialen Bewegungen auf Marx‘ Kritik weiterhin eher ungezwungen und situativ Bezug genommen. Allerdings werden im Vergleich zu den Jahren unmittelbar vor 1989 der Theoriebildung wieder mehr Raum und ein höherer Stellenwert eingeräumt. Sie ist ebenso Rückzugsort wie Kampffeld geworden, sie dient ebenso der Selbstverständigung wie der Politisierung und gilt als eine besondere Form der Praxis. Marx ist stets Bezugspunkt im Hintergrund, der Gebrauch seiner Kritik bleibt aber eher unverbindlich und wird zudem regelmäßig mit anderen Strängen der Gesellschaftskritik verbunden. Das zeigt sich exemplarisch an denjenigen Büchern und Schriften, welche die Sozialen Bewegungen in den letzten Jahren begleitet haben und die auch außerhalb der Sozialen Bewegungen zu deren Identifizierung und Einordnung rezipiert wurden.

So war um die Jahrtausendwende Empire von Antonio Negri und Michael Hardt – als „Bibel der Anti-Globalisierungsbewegung“ bezeichnet – eine post-operaistische Marx-Aneignung. Der kommende Aufstand vom Unsichtbaren Komitee von 2007 wurde zur einer Art Manifest der Platzbesetzungen, Aufstände und Riots, die in einer regelrechten Kette um die Welt gingen; hier handelt es sich um eine wilde Mischung aus anarchistischen, insurrektionistischen, situationistischen u.a. Versatzstücken. Das Buch Schulden. Die ersten 5.000 Jahre von David Graeber war 2011 das Buch zur Finanz- und Schuldenkrise, aber Graebers herrschaftskritisch-anarchistische Politisierung von Schulden steht vielfach konträr zu klassischen Annahmen im Bereich des Marxismus. Thomas Piketty Das Kapital im 21. Jahrhundert von 2013 war dann eine Bilanzierung der Folgen der letzten Jahrzehnte neoliberaler und finanzkapitalistischer Politik, aber die großangelegte Studie war eher linkskeynesianisch und kritisch-soziologisch als mit Marx ökonomiekritisch ausgerichtet. Und Rückkehr nach Reims von Didier Eribon schließlich wurde zur Referenz für die Diskussion um den Aufstieg des Rechtspopulismus und die Verdrängung der „Klassenfrage“.