„Das Kommunistische Manifest konnte noch erklären.“

Vorwort zur achten autorisierten deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests, Buchhandlung Vorwärts Paul Singer, 1918

Vorwort

Bald sechzig Jahre sind seit der Abfassung des Kommunistischen Manifestes verflossen, sechzig Jahre einer Produktionsweise, die mehr als jede vor ihr in ständiger Umwälzung des Alten, in stetem Hasten und Jagen nach Neuem besteht; sechzig Jahre völliger politischer und sozialer Revolutionierung nicht nur Europas, sondern des gesamten Erdballs. Diese sechs Jahrzehnte konnten auch am Kommunistischen Manifest nicht spurlos vorübergehen. Je richtiger es seine Zeit erfaßt und je mehr es ihr entsprochen hatte, um so mehr mußte es in manchen Punkten veralten und insofern zu einem historischen Dokument werden, das Zeugnis für seine Zeit abgibt, aber nicht mehr bestimmend sein kann für die Gegenwart.

Aber wohlgemerkt, das gilt nur für manche Punkte, für solche, wo der praktische Politiker zu den Zeitgenossen spricht. Nichts wäre irriger, als das ganze Kommunistische Manifest zu einem historischen Dokument zu stempeln. Im Gegenteil. Die Grundsätze, dies es entwickelt, die Methode, zu der es uns anleitet, die Charakterisierung der heutigen Produktionsweise, die es in knappen Strichen gibt, gelten heute mehr denn je. Die ganze tatsächliche Entwickelung ebenso wie die ganze theoretische Forschung der Zeit seit der Abfassung des Kommunistischen Manifestes sind nichts als eine ununterbrochene Reihe von Bekräftigungen seiner grundlegenden Auffassungen. Mehr als je wird heute der Satz allgemein anerkannt, daß die Geschichte aller bisherigen (zivilisierten) Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen sei, und nie lag es deutlicher zutage als jetzt, daß die große Triebkraft unserer Zeit der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist.

Aber der Proletarier und auch der Bourgeois sind beute nicht mehr ganz dieselben, die sie vor sechs Jahrzehnten waren. So scharf und richtig sie das Manifest zeichnete, und so sehr diese Zeichnung auch heute noch die glänzendste und tiefstgehende Darstellung dieser beiden Klassen in so engem Rahmen bildet, so trifft sie doch in manchen Punkten nicht mehr zu.

Zur Zeit, wo das Kommunistische Manifest erschien, war noch das hervorstechendste Charakteristikum des Proletariers seine Degradation, das Sinken seines Lohnes, die Verlängerung seiner Arbeitszeit, sein physisches, oft auch moralisches und intellektuelles Verkommen, kurz, sein Elend. Von den drei großen Klassen, welche die Masse des Volkes bildeten, Bauern, Kleinbürger und Lohnarbeiter, standen die letzteren in jeder Beziehung am tiefsten. Arm, gedrückt, hülflos, an Zahl und ökonomischer Bedeutung (außer in England) hinter den beiden anderen Klassen zurückstehend, waren sie für die meisten uninteressierten Beobachter nur ein Objekt des Mitleids. Es bedurfte des ganzen ökonomischen und historischen Wissens und der ganzen Denkkraft eines Marx und Engels, um im Klassenkampf des Proletariats die stärkste Triebkraft in der sozialen Entwickelung der kommenden Jahrzehnte zu entdecken, damals, wo die Nachfolger der großen Utopisten das Proletariat noch als hülflose Masse betrachteten, der nur von den oberen Klassen Hülfe kommen könne, und die Revolutionäre alles vom „Volk“ erwarteten, das ist, im wesentlichen, von Kleinbürgern und Bauern, als deren bloßes Anhängsel der Lohnarbeiter erschien, der geistig, gesellschaftlich, vielfach auch ökonomisch von ihnen abhängig war.

Ganz anders steht das Proletariat heute da. Wohl unterliegt es noch denselben herabdrückenden Einwirkungen des Kapitals wie vor 60 Jahren; wohl strebt das Kapital auch heute noch danach, die Löhne zu verkürzen, die Arbeitsstunden zu verlängern, den Arbeiter durch die Maschine, den arbeitenden Mann durch Weib und Kind zu verdrängen und das Proletariat auf diese Weise zu degradieren. Aber immer mächtiger wächst „auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“ (Marx im „Kapital“). Immer stärker setzt der Widerstand des Proletariats ein, eine seiner Schichten nach der anderen weiß die degradierenden Wirkungen des Kapitalismus zu überwinden.

Ganz anders Kleinbürgertum und Kleinbauernschaft Während seit Jahrzehnten wachsende Mengen von Proletariern ihre Arbeitszeit immer mehr verkürzen, ihre Löhne erhöhen, bleibt die Arbeitszeit der Handwerker und Kleinbauern stets gleich lang, bis an die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit ausgedehnt, während zugleich die Intensität ihrer Arbeit wächst. Und immer mehr nähert sich die Lebenshaltung der Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern dem Existenzminimum. Andererseits, wenn in der Großindustrie die Arbeiterklasse für die Frauen- und Kinderarbeit immer stärkere Schranken, immer größeren Schutz zu erringen weiß, werden Handwerker und Kleinbauern immer mehr angewiesen auf die weitestgehende Ausbeutung eigener wie fremder Frauen und Kinder.

Hand in Hand mit dieser ökonomischen Umwandlung geht eine intellektuelle und politische. Der Kleinbürger überragte vor hundert Jahren noch weit alle anderen Klassen der eigentlichen Volksmasse an Intelligenz, Selbstvertrauen, Kühnheit. Heute ist er das Prototyp der Beschränktheit, Knechtseligkeit und Feigheit geworden, während das Proletariat jene Tugenden aufs kraftvollste entfaltet. Vor hundert Jahren, ja noch vor fünfzig Jahren bildete auch noch das Kleinbürgertum den Kern der demokratischen Opposition, des bürgerlichen Radikalismus, der den Schlössern, Thronen und Altären den Krieg, erklärte und Frieden den Hütten. Heute ist das Kleinbürgertum zur Kerntruppe der Reaktion geworden, zur Garde der Schlösser, Altäre und Throne, von denen es die Errettung aus dem Elend erhofft, in das es die ökonomische Entwickelung gestürzt hat.

Und ähnlich ist es mit der Bauernschaft gegangen.

Es gibt in der Volksmasse der kapitalistisch entwickelten Länder (das gilt also nicht für Rußland) nur noch eine Klasse, die sich mit aller Kraft für den sozialen Fortschritt einsetzt“ das Proletariat.

Aber zum Glück für die gesellschaftliche Entwickelung sind alle diese Veränderungen auch von einer völligen Verschiebung im Verhältnis der Kräfte begleitet. Zur Zeit, wo das Kommunistische Manifest abgefaßt wurde, lebte noch die große Mehrheit der Bevölkerung (in Frankreich und Deutschland 70 bis 80 Prozent) auf dem flachen Lande. Und in den Städten überwog das Kleinbürgertum. Heute hat in allen industriell entwickelten Staaten Europas die städtische Bevölkerung die Mehrheit, und in den Städten überwiegt das Proletariat. Noch mehr als sein Anteil an der Bevölkerungszahl ist aber seine ökonomische Bedeutung gewachsen. Vor hundert Jahren diente noch die kapitalistische Industrie vornehmlich dem Luxus, namentlich auf dem Festlande Europas, der Produktion von Seidenstoffen, Teppichen, Porzellan, Papier usw. Noch vor sechzig Jahren beruhte das ökonomische Leben vornehmlich auf dem Handwerk und der bäuerlichen Wirtschaft. Heute hängt die ökonomische Bedeutung und der Reichtum eines Landes in erster Linie von seiner kapitalistischen Großindustrie ab, die nicht mehr dem Luxus, sondern dem Massenkonsum dient und Unentbehrliches produziert. Ein moderner Staat kann ohne Bauern und Handwerker existieren, wie England zeigt. Er kann aber nicht existieren ohne Großindustrie und die ihr entsprechenden Verkehrsmittel. Mit der Großindustrie und den Mitteln des Massentransports wächst aber auch das Proletariat. Es wird schon der bloßen Zahl nach die stärkste Volksklasse. In der Industrie Deutschlands waren bereits 1895 drei Viertel der Erwerbstätigen Lohnarbeiter —75 Prozent, 1882 erst 66 Prozent, zwei Drittel.

Von ihnen hängt heilte das ganze ökonomische Leben des Landes ab, in ihren Reihen selbst aber wächst, wie wir gesehen, die Zahl derjenigen, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich über die der kleinen Handwerker, Händler und Bauern erheben.

Die Lage vieler Schichten der besitzlosen Arbeiter erhebt sich heute über die weiter Kreise von besitzenden, das heißt, im Besitz ihrer Produktionsmittel befindlichen Arbeitern. Man kann daher heute nicht mehr mit dem Kommunistischen Manifest sagen“ „Der Arbeiter wird zum Pauper, er sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab.“

So steht das Proletariat heute ganz anders da, als vor sechzig Jahren. Aber freilich, die Dinge müssen sich im Kopfe ganz eigenartig spiegeln, wenn man zu erkennen glaubt, daß sich infolge dieser Aenderungen der Gegensatz des Proletariats zum Kapital gemildert hat. Im Gegenteil. Allerdings stehen dem Proletariat im ganzen und großen heute mehr Kulturgüter zu Gebote, als in früheren Jahrhunderten, oder auch Jahrzehnten. Die enorme Zunahme der Produktivkräfte, die der Kapitalismus entfesselt hat, ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Andererseits kann man auch von einer Hebung der Lage vieler proletarischer Schichten sprechen, wenn man sie vergleicht mit der Lage des Kleinbürgertums und der Kleinbauernschaft“ aber die Lage des Proletariats verschlechtert sich entschieden und rapid, wenn man sie mit der seiner Ausbeuter vergleicht, der Kapitalistenklasse. Die Produktivität der Arbeit ist unter der Herrschaft des Kapitals enorm gewachsen, der gesellschaftliche Reichtum kolossal gestiegen, aber was das Proletariat davon abkriegt, ist höchst dürftig, verglichen mit der Fülle, die sich die Kapitalistenklasse aneignet. Verglichen mit der Lebenshaltung der Kapitalistenklasse und mit der Akkumulation von Kapital verschlechtert sich die Lage des Proletariats, sein Anteil an den Produkten seiner Arbeit vermindert sich immer mehr und seine Ausbeutung steigt.  Und jeden Fortschritt, den es trotz alledem errungen, hat es nur im Kampfe gegen das Kapital erobern können, und nur im steten Kampfe dagegen kann es ihn behaupten. So wird nicht nur seine Degradation, sondern auch seine Erhebung aus ihr, werden nicht nur seine Niederlagen, sondern auch seine Siege Quellen steter und fortschreitender Erbitterung gegen die feindliche Klasse. Die Formen des Kampfes wechseln und werden immer höhere, aus vereinzelten Akten wilder Verzweiflung werden planmäßige Aktionen großer Organisationen — die Gegensätze bleiben und werden immer schroffer.

Aber wie das Proletariat, hat sich auch die industrielle Bourgeoisie in den letzten sechzig Jahren gewandelt. Als das Kommunistische Manifest erstand, hatte sie gerade erst das letzte Hindernis ihrer Herrschaft in England, die Kornzölle, beseitigt, stand sie auf dem Festlande Europas noch vor der Notwendigkeit einer Revolution, um die politische Gewalt ihren Zwecken- dienstbar zu machen.

Sie stand denselben Mächten feindlich gegenüber, die die große Volksmasse am sichtbarsten bedrückten — Pfaff, Adel, Monarchie, hohe Finanz —, hatte noch große, politische Ziele, Ideale, die auch etwas wie ethischen Idealismus um sie verbreiteten. Noch glaubte sie, daß den“ allgemeinen Wohlstand nur die feudalen Ueberreste im Wege ständen —, nach deren Hinwegräumung eine Aera allgemeinen Glückes beginnen würde.

Die Revolution von 1848 brachte dann die Enttäuschung, enthüllte die modernen Klassengegensätze. Die ökonomische Entwickelung hat sie weiterhin, wie wir eben gesehen, immer mehr vertieft und damit die industrielle Bourgeoisie und ihren Anhang immer mehr aus dem Lager der Demokratie in das Lager der Reaktion gedrängt. Zur Alleinherrschaft konnte sie in Europa nirgends kommen. Sie suchte ehedem die Herrschaft zu erobern mit Hülfe des Kleinbürgertums und des Proletariats, sie sucht sie jetzt zu behaupten mit Hülfe jener Mächte, gegen die sie die Demokratie aufgerufen hatte. Dazu kommt, daß die Industrie durch das Aktienwefen immer mehr der hohen Finanz ausgeliefert wird, die seit jeher antidemokratisch war und die absolute Staatsmacht begünstigte.

Das Kommunistische Manifest konnte noch erklären:

In Deutschland kämpft die kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei.

Heute ist nirgends mehr von einer revolutionären Bourgeoisie die Rede, abgesehen vielleicht von Rußland.

Indes nicht nur Bourgeoisie und Proletariat sind heute in mancher Beziehung anders geartet als zur Zeit des Kommunistischen Manifestes, auch der Gang der Entwickelung war nicht ganz derselbe, den dieses erwartete. Freilich, die grundlegende ökonomische Entwickelung hat sich völlig in den Bahnen bewegt, die das Manifest so scharf zeichnete; was es darüber sagt, ist heute noch mustergültig. Aber die politische Entwickelung ging in anderer Weise vor sich, als man damals voraussehen konnte.

Marx und Engels waren sich dessen wohl bewußt, daß die Arbeiterklasse in ihrer damaligen Form namentlich in Deutschland noch unfähig war, die politische Gewalt zu erobern und zu behaupten. Aber sie erwarteten, die bevorstehende bürgerliche Revolution, die sie vor allem für Deutschland voraussahen, werde einen ähnlichen Gang gehen, wie die englische Revolution des siebzehnten, die französische des achtzehnten Jahrhunderts. Sie werde in ihrem Beginn eine Erhebung der revolutionären Bourgeoisie gegen Absolutismus und Feudalismus sein, aber in ihrem Verlaufe würden die Proletarischen Elemente immer mehr ihren Gegensatz zur Bourgeoisie erkennen und entwickeln, werde die Revolution immer mehr den Einfluß des Proletariats verstärken, dieses in raschestem Tempo selbst kräftigen und reifen. Denn während einer Revolution geht jede Entwickelung aufs rascheste vor sich; manche Klasse kommt da in fünf Jahren leicht so weit, wie sonst in einem Jahrhundert. So werde sich an die bürgerliche Revolution unmittelbar die proletarische und die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat anschließen, nicht als das Produkt eines Handstreiches, sondern jahrelanger, vielleicht jahrzehntelanger revolutionärer Kämpfe.

Das Kommunistische Manifest sagt darüber:

Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt, als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.

Diese Erwartung erfüllte sich nicht, wie wir heute alle wissen, erfüllte sich gerade deswegen nicht, weil die Umwälzung von 1848 „unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation“ vor sich ging, als die mit 1640 und 1789 anhebenden.

Was die Proletarischen und halbproletarisch-kleinbürgerlichen Elemente in der englischen und französischen Revolution in deren Verlauf immer mehr in den Vordergrund drängte und ihnen zu zeitweiser Politischer Macht verhalf, das war der Krieg, ein Krieg auf Tod und Leben, den die Revolution zu führen hatte und in dem sie sich nur behaupten konnte durch jene Rücksichtslosigkeit gegen das eigene Leben und das Eigentum der Besitzenden, die das Proletariat auszeichnet. Es war in England der jahrelange Krieg des Parlaments gegen die adeligen Heere Karls I., es war in Frankreich der ebenfalls jahrelange Krieg gegen das verbündete monarchische Europa.

Die Revolution von 1848 entzündete keinen Krieg. Nicht in langwierigem Bürgerkriege fielen die Regierungen, die Barrikadenkämpfe eines Tages genügten, sie in Paris, Wien, Berlin zusammenbrechen zu lassen. Und die Revolution erstreckte sich über ganz Europa; sie fand keine auswärtige Macht, die ihr den Krieg erklärt hätte. Das absolutistische Rußland verhielt sich zunächst mäuschenstill.

Waren aber die feudal-absolutistischen Gegner der Revolution 1848 weit schwächer, als im achtzehnten und siebzehnten Jahrhundert, so war das Proletariat weit stärker. Es gewann sofort in den Februartagen in Paris eine dominierende Stellung. An Stelle eines Kampfes auf Tod und Leben gegen Monarchie und Adel, in dem man, ob man wollte oder nicht, das Proletariat zum Kampf aufrufen, bewaffnen und sich schließlich seinen Einfluß gefallen lassen mußte, trat diesmal für die Bourgeoisie sofort der Drang nach einem Kampf auf Tod und Leben gegen das Proletariat selbst, zu dem sie die eben niedergeworfene Staatsgewalt mit ihrer Armee aufrief, um sich schließlich wieder deren Joch gefallen zu lassen.

Die Junischlacht war die Katastrophe der Revolution von 1848. Sie inaugurierte eine neue historische Epoche. Mit ihr hört die Bourgeoisie vollständig auf, eine politisch revolutionäre Klasse zu sein, sie schließt die Aera der bürgerlichen Revolutionen — wenigstens für Westeuropa; inwieweit das Gesagte für Rußland gilt, wo Bauernschaft und Intelligenz eine ganz andere Rolle spielen als im heutigen Westeuropa, will ich hier nicht erörtern. Vom Juni 1848 an ist im westlichen Europa keine bürgerliche Revolution mehr möglich, die das Vorspiel einer proletarischen werden könnte. Die nächste Revolution kann hier nur noch eine proletarische sein.

Und selbst in Rußland konnte die Initiative zu einer Revolution nur noch vom industriellen Proletariat ausgehen, auch wenn diese noch nicht zu seiner Alleinherrschaft führt.

Damit ist aber auch die Rolle der Arbeiterbewegung eine total andere geworden als sie zur Zeit der Entstehung des Kommunistischen Manifestes war.

Die Kräftigung der Arbeiterklasse, ihre Erhebung aus jene Höhe, die es ihr ermöglicht, die politische Macht zu erobern und zu behaupten, kann nicht mehr von einer bürgerlichen Revolution erwartet werden, die, zu einer permanenten geworden, über sich selbst hinauswächst und eine proletarische aus sich entwickelt. Außerhalb der Revolution, vor der Revolution muß sich dieses Reifen und Kräftigen vollziehen; es muß zu einer gewissen Höhe gediehen sein, ehe die Revolution überhaupt möglich wird. Es muß sich vollziehen, nicht durch Methoden des Krieges, sondern durch solche des Friedens — wenn man sich so paradox ausdrücken darf, daß man zwischen kriegerischen und friedlichen Methoden des Klassenkampfes unterscheidet. Arbeiterschutz, gewerkschaftliche, sogar genossenschaftliche Organisation, allgemeines Wahlrecht bekamen seit den fünfziger Jahren allmählich eine ganz andere Bedeutung, als sie bis zum Juni 1848 besessen hatten.

Heute liegt das klar zutage, was vor sechzig Jahren noch in tiefste Dunkelheit gehüllt war; dank dem fühlt sich heute mancher kurzsichtige Maulwurf, der emsig nach Regenwürmern wühlt, den Meistern des Kommunistischen Manifestes an Weite und Schärfe des Blickes sehr überlegen, und sieht sogar mitleidsvoll auf ihre „intellektuellen Fehler“ herab. Tatsache aber ist, daß niemand unter den Sozialisten und Revolutionären die neue Situation und ihre Konsequenzen früher begriff, als Marx und Engels.

Sie waren die ersten, die erkannten, daß die Aera der Re volution, wenigstens zuerst, geschlossen sei. Die „Internationale“ war es dann, die zuerst die gewerkschaftliche Organisation auf dem Festlande von Europa systematisch zu fördern suchte; das „Kapital“ von Marx bot die erste Theorie des Arbeiterschutzes, und in die proletarische Bewegung für das allgemeine Wahlrecht der sechziger Jahre in England griff die „Internationale“ kraftvoll ein.

Aber nicht nur die Methoden, durch die die Arbeiterklasse reifen kann, mußten durch die neue Situation andere werden, auch das Tempo der Entwickelung. An Stelle des rapiden revolutionären Aufschwunges trat der für einen Feuergeist ach so langsame Schneckengang der friedlichen und gesetzlichen Evolution.

So ist manches ganz anders gekommen, als die Verfasser des Kommunistischen Manifestes zur Zeit seiner Abfassung erwarteten. Aber sie waren die ersten, die die neue Situation erkannten, und zwar gerade durch die Grundsätze und Methoden, die sie in ihrem Manifest entwickelt hatten“ und die neue Situation selbst bildete, wenn auch in anderen Formen, als sie vorausgesehen, eine Bestätigung dieser Grundsätze. Wenn Arbeiterschutz und gewerkschaftliche Organisationen in den folgenden Fahrzehnten eine Bedeutung erlangten, die 1847 noch nicht zu erkennen war, so lag dies nur daran, daß der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat wenige Monate nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes schon in einer Weise auf die Bourgeoisie zurückwirken sollte, die vor dem Februar 1848 niemand ahnte, also daran, daß die Zeichnung dieses Gegensatzes im Kommunistischen Manifest schon für seine Zeit mehr zutraf, als seine Zeichner selbst annahmen.

Aber von diesem Zusammenhange haben die wenigsten derjenigen, die sich als „Kritiker“ des Manifestes aufspielen, eine Ahnung. Aus der Tatsache, daß an Stelle einer raschen, stürmischen eine bisher „friedliche“, allmähliche Entwickelung trat, an Stelle revolutionärer legale Methoden des Klassenkampfes, schließen sie, daß ein Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat entweder überhaupt nicht bestehe oder daß er doch in steter Abschwächung begriffen sei. Sie predigen das Zusammenwirken zwischen liberaler Bourgeoisie und Proletariat, und soweit es Sozialisten sind, berufen sie sich dabei auf jenen Satz des Kommunistischen Manifestes, worin gesagt wird:

„In Deutschland kämpfte die kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei.“

Aber wir haben ja gesehen, daß. soweit von einem „Irrtum“ des Kommunistischen Manifestes gesprochen werden kann und seine Kritik erforderlich ist, sie gerade bei diesem „Dogma“ von der politisch-revolutionären Bourgeoisie einzusetzen hat. Die Ersetzung der Revolution durch die Evolution in Westeuropa während des letzten halben Jahrhunderts ist gerade eine Folge dessen, daß es eine revolutionäre Bourgeoisie hier nicht mehr gibt. Ueberdies aber verstanden Marx und Engels unter dem gemeinsamen Kampfe mit der revolutionären Bourgeoisie etwas ganz anderes, als die heutigen Träger des sozialistischen Ministerialismus. In der Ansprache der Zentralbehörde an den Kommunistenbund vom März 1850 wird das Verhältnis der Kommunisten zur bürgerlichen Demokratie behandelt, von der man damals noch annahm, sie werde bei einem erneuten revolutionären Ausbruch zunächst ans Staatsruder gelangen. Da heißt es:

Im gegenwärtigen Augenblicke, wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind, predigen sie dem Proletariat im allgemeinen Einigung und Versöhnung; sie bieten ihm die Hand und streben nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei, die alle Schattierungen in der demokratischen Partei umfaßt, d. h., sie streben danach, die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozialdemokratischen Phrasen vorherrschend sind, [1] hinter welchen ihre (der demokratischen Kleinbürger) insbesondere Interessen sich verstecken, und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des lieben Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteil und ganz zum Nachteil des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbstständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziell-bürgerlichen Demokratie herabsinken. Diese Vereinigung muß also auf das Entschiedenste zurückgewiesen werden . . . Für den Fall eines Kampfes gegen einen gemeinsamen Gegner braucht es keiner besonderen Vereinigung. Sobald ein solcher Gegner direkt zu bekämpfen ist, fallen die Interessen beider Parteien für den Moment zusammen, und wie bisher wird sich auch in Zukunft diese nur für den Augenblick berechnete Verbindung von selbst herstellen. Es versteht sich, daß bei den bevorstehenden blutigen Konflikten, wie bei allen früheren, die Arbeiter durch ihren Mut, ihre Entschiedenheit und Aufopferung hauptsächlich den Sieg werden zu erkämpfen haben . . . Während des Kampfes und nach dem Kampf müssen die Arbeiter neben den Forderungen der bürgerlichen Demokraten ihre eigenen Forderungen bei jeder Gelegenheit aufstellen. Sie müssen Garantien für die Arbeiter verlangen, sobald die demokratischen Bürger sich anschicken, die Regierung in die Hand zu nehmen. Sie müssen sich diese Garantien nötigenfalls erzwingen und überhaupt dafür sorgen, daß die neuen Regierer sich zu allen nur möglichen Konzessionen und Versprechungen verpflichten — das sicherste Mittel, sie zu kompromittieren. Sie müssen überhaupt den Siegesrausch und die Begeisterung für den neuen Zustand ... in jeder Weise durch ruhige und kaltblütige Auffassung der Zustände und durch unverhohlenes Mißtrauen gegen die neue Regierung so sehr wie möglich zurückhalten . . . Mit einem Wort“ vom ersten Augenblick des Sieges an muß sich das Mißtrauen nicht mehr gegen die besiegte, reaktionäre Partei, sondern gegen ihre bisherigen Bundesgenossen, gegen die Partei richten, die den gemeinsamen Sieg allein exploitieren will.

Das war also die Form des gemeinsamen Kampfes von Bourgeoisie und Proletariat gegen Absolutismus und Feudalismus, die Marx und Engels bei der Abfassung des Kommunistischen Manifestes im Auge hatten.

Freilich kann man einwenden, es habe sich damals um revolutionäre Kämpfe gehandelt. Aber ein gemeinsamer revolutionärer Kampf ist doch der für das Zusammenwirken von Bourgeoisie und Proletariat günstigste Fall. Die Gefahr der Ausbeutung der politischen Kraft des Proletariats durch die Bourgeoisie, des Verlustes jener politischen Kraft, die aus seiner politischen Selbständigkeit hervorgeht, und die Notwendigkeit des Mißtrauens gegen eine bürgerlich-demokratische Regierung sind doch offenbar viel stärker dort, wo die Bourgeoisie' nur noch konservativ sein kann, als dort, wo es sich noch um die revolutionäre Eroberung neuer Positionen handelt.

Wo aber heute, abgesehen von Rußland, ein Zusammenwirken von Bourgeoisie und Proletariat nötig werden kann, ist es nicht zu revolutionären, sondern zu konservativen Zwecken, zur Erhaltung und Sicherung der bestehenden dürftigen Anfänge der Demokratie gegenüber dem Ansturm der Reaktion. Auch bei diesen Kämpfen gegen die Reaktion hat das Proletariat seinen Mann zu stellen, auch hier fällt ihm die schwerste Arbeit zu, auch hier muß es zeitweise mit der liberalen Bourgeoisie zusammenwirken, aber noch mehr, als im revolutionären Kampfe besteht hier die Gefahr, daß es von seinen Bundesgenossen verraten wird, besteht hier die Notwendigkeit, diesem mit offenkundigem Mißtrauen gegenüber zu stehen und besteht vor allem die Notwendigkeit völliger Selbständigkeit der Organisation. Das Proletariat ist durch seine Klassenlage eine durch und durch revolutionäre Klasse“ es ist heute die einzige revolutionäre Klasse. Es mag durch die Umstände gezwungen werden, zeitweise an einer konservativen Aktion, das Wort konservativ im obigen Sinne genommen, gegenüber der Reaktion teilzunehmen, in der konservativen Aktion aufgehen kann es nie. Es muß immer seinen revolutionären Charakter betätigen, dieser muß auch dort zum Durchbruch gelangen, wo es momentan konservativ wirkt; es kann seine Kräfte nur entwickeln und vermehren in revolutionärem Handeln und revolutionärer Propaganda, es untergräbt die Wurzeln seiner eigenen Kraft, wenn es sich auf die Nolle eines konservativen Gardisten einer etwa herrschenden liberalen Bourgeoisie gegenüber dem Ansturm von Pfaffen, Junkern und Söldnern beschränkt.

Eine Schablone für die Formen, die der Klassenkampf des Proletariats in jedem Lande anzunehmen hat, läßt sich freilich nicht geben. Auch das Kommunistische Manifest will nicht als solche angesehen sein. Höchst mannigfaltig und verwickelt sind die Verhältnisse, unter denen das Proletariat heute seine politischen und ökonomischen Kämpfe zu führen hat. In jedem Lande sind manche dieser Bedingungen des Kampfes ganz besonderer Art, nirgends mehr aber entsprechen sie völlig denen, unter deren Einfluß das Kommunistische Manifest abgefaßt wurde.

Trotzdem bildet dieses immer noch den besten, zuverlässigsten Führer des Proletariats auf seinem Wege zur Emanzipation seiner Klasse und damit des Menschengeschlechts. Es bildet den besten Führer nicht als Evangelium, als Bibel, wie man es genannt hat, deren Worte heilig sind, sondern als historisches Dokument, das der Kritik bedarf, aber einer Kritik, die sich nicht darauf beschränkt, bei einzelnen Sätzen und Wendungen, die heute nicht mehr zutreffen, dies zu konstatieren, sondern einer Kritik, die es zu begreifen sucht, auch jene Sätze zu begreifen sucht, die heute veraltet sind, und die dadurch neue Erkenntnis aus ihnen schöpft. Wer das Kommunistische Manifest in dieser Weise studiert, dem wird es der sicherste Kompaß in dem stürmischen Meere des Proletarischen Klassenkampfes, ein Kompaß, dem die sozialistischen Parteien aller Länder es zu danken haben, wenn sie trotz aller widrigen

Strömungen, trotz Nebel und Klippen immer im richtigen Fahrwasser vorwärts steuern, wie er seit sechzig Jahren auch die Richtung der ökonomischen Entwickelung anzeigt, die durch alle Tatsachen immer wieder von neuem bestätigt wird. Es gibt kein historisches Dokument, das durch die auf seine Abfassung folgenden Jahrzehnte glänzender bekräftigt worden wäre, als das Kommunistische Manifest.

Berlin, Juni 1906
Karl Kautsky

 
 

Fußnoten

1Was man damals Sozialdemokratie nannte, war nicht eine Proletarische Klassenpartei, sondern ein kleinbürgerlich-proletarisches Gemisch ohne ausgesprochenen Klassencharakter, aber mit vorwiegend kleinbürgerlichen Bestrebungen.

Ähnliches: 

„Es atmet die Grösse und Weite echter Weltkultur.“

Um die Dinge greifbar und begreifbar zu machen, haben die Menschen die Zuordnung und die Charakterisierung er­funden. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“ läßt sich zu allererst als ein historisches Dokument einordnen; vor­sichtigerweise sollten wir hinzufügen: vorläufig …