Die Marx-Rezeption im ehemaligen Jugoslawien (Teil 3)

Ausstellung 150 Jahre Das Kapital im Museum der Arbeit in Hamburg, 2018

In dieser Beitragsreihe haben wir – im Dialog mit zahlreichen Diskussionspartnern – im ersten Teil allgemein in die Bedeutung von Marx' Kapital von der Erstpublikation bis heute eingeführt. Im zweitenTeil betrachteten wir seine Historisierung, seine Übersetzungsgeschichte, seine Rezeption sowie den Einfluss, den das Buch im ehemaligen Jugoslawien über alle gesellschaftspolitischen Systeme hinweg gehabt hat. Der dritte Teil widmet sich nun der Rezeption des Kapital in Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg. Und schließlich werden wir im vierten und letzten Teil das im Zuge der jüngsten, seit 2008 andauernden wirtschaftlichen und politischen Krise wieder aufgekommene Interesse für Marx' Kapital beleuchten. Teil 3: Das gelesene Buch.

Im Folgenden werden wir uns detaillierter mit dem Schicksal von Marx’ Kapital an den Universitäten im sozialistischen Jugoslawien beschäftigen. Sicher ist, dass dieses Buch nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Weise zum Gegenstand der intellektuellen Auseinandersetzung wurde, die in früheren Zeiten nicht möglich gewesen war. Über die Stellung dieses Werkes von Marx innerhalb der akademischen Gemeinschaft und für die einzelnen Fachbereiche sprachen wir mit Mislav Žitko, Assistent am Institut für Philosophie der Philosophischen Fakultät in Zagreb, sowie mit dem bekannten Soziologieprofessor Rastko Močnik, Emeritus der Universität Ljubljana und Dozent an der Fakultät für Medien und Kommunikation in Belgrad.

Žitko äußert sich sehr kritisch: Grob gesagt, schien es so, dass, allen nominellen Superlativen zum Trotz, weder die Wirtschaftsexperten, noch die Philosophen, noch die Soziologen etwas mit diesem Buch anzufangen wussten, wenngleich sein kanonischer Status nie in Frage gestellt wurde. Der Diskurs innerhalb der Wirtschaftswissenschaften entwickelte sich anhand anderer ökonomischer Kategorien als jenen, die wir bei Marx finden. Am deutlichsten zeigt sich das vermutlich bei Branko Horvat [i] und Aleksandar Bajt [ii]. Er speiste sich aus anderen intellektuellen Einflüssen aus dem Umfeld der Neoklassik und des Keynesianismus.” Žitko spricht sich für die häufig von zeitgenössischen Zagreber Marxisten der neuen Generation vertretene These aus, dass „Marx‘ Kapital in erster Linie eine Analyse des Kapitalismus darstellt und das Werk daher schwerlich als Rahmen für die Untersuchung der sozialistischen Selbstverwaltung dienen konnte.” Dass es gleichwohl Versuche in diese Richtung gab, belegen viele Beispiele. So organisierte die Zeitschrift Kulturni radnik [iii] am 5. Juni 1976 in ihren Redaktionsräumen in Zagreb anlässlich der Erscheinung des Buches Marksistička politička ekonomija [iv] von Adolf Dragičević eine Diskussionsrunde, an der Wirtschaftsexperten, Philosophen und Soziologen teilnahmen. Zwei der behandelten Themen wurden anschließend vom Herausgeber, dem Soziologen Rade Kalanj, im Vorwort des später erschienen Büchleins Die marxistische politische Ökonomie oder die marxistische Kritik der politischen Ökonomie [v] ausgeführt. Es ging darum, ob die aktuelle politische Entwicklung die Ansichten der Klassiker widerlegt und – wesentlich bedeutsamer – „ob die marxistische politisch-ökonomische Analyse sich hinsichtlich ihres theoretischen Anwendungsbereichs auf der Höhe der tatsächlichen, sozialistischen Umgestaltungen der gesellschaftlichen Verhältnisse befindet”.

Žitko hat mit seiner Bemerkung Recht, Das Kapital habe innerhalb der (akademischen) Philosophie in Jugoslawien, deren einflussreichste Vertreter die Zagreber bzw. Belgrader Philosophen der Praxis-Schule darstellten, keine zentrale Rolle eingenommen, da es am wenigsten mit den für sie zentralen Fragestellungen korrespondierte. Tatsächlich ging es nicht nur um thematische Ausrichtungen, sondern auch um die politische Position der internen Kritik am jugoslawischen Modell, für die Marx’sche Kategorien und Formulierungen aus anderen Werken deutlich passender waren.” Die für das Werk generell ungünstigen Rahmenbedingungen wurden, so Žitko, nur von einzelnen Ausnahmen durchgebrochen. „Hin und wieder kam es im Kontext eines philosophischen Projektes zu einer ernsthaften Analyse des Kapitals, etwa bei Vanja Sutlić und seinem Versuch der Rephilosophisierung von Marx – unabhängig davon, ob wir seinen Behauptungen zustimmen oder nicht.” Des Weiteren erfährt es innerhalb einiger Ansätze der psychoanalytischen Schule von Ljubljana eine relative Anerkennung: „Ich denke, dass Marx’ Theorie des Warenfetischs, die er im Kapital formulierte, als wesentlicher Punkt in der Ljubljaner Theorie zur Psychoanalyse erscheint, auch wenn diese durch andere Autoren wie Althusser und Sohn-Rethel vermittelt wurde.”

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Teilweise ähnlich beginnt Močnik seine Historisierung der Behandlung des Kapitals: „Als wir in den Sechzigern an der Philosophischen Fakultät von Ljubljana studierten, war das Lesen des Kapital Teil des Lehrplans und der Einführung in die politische Ökonomie zugeordnet. Im ersten Semester behandelten wir hier die Geschichte der politischen Ökonomie, im zweiten und dritten alle drei Bände des Kapital und im vierten Keynes sowie das Wirtschaftssystem Jugoslawiens. Marx lasen wir auf eine verschulte Art, schematisch – aber das war eine ausgezeichnete Grundlage für die theoretische Lektüre, die wir später durch Das Kapital lesen von Louis Althusser und die Beschäftigung mit seinen Schülern vertieften. Althussers theoretischer Antihumanismus war eine erfolgreiche marxistische Antwort auf Heideggers Kritik des Humanismus, die damals in Jugoslawien (wie auch in zahlreichen anderen sozialistischen Ländern) einen Teil der später rechten und nationalistischen ‚Denker’ anzog. Insgesamt ermöglichte uns Althussers Interpretation von Marx einen produktiven Bruch mit der Philosophie der jugoslawischen Zeitschrift Praxis, die damals eine der bedeutendsten Varianten des globalen Marxismus repräsentierte.”

Močnik sieht seine Generation von Theoretikern, die in den 1960ern und 1970ern die akademische Bühne betrat, als eine, die vom Leben begünstigt war. „Wir hatten Glück; diese Zeit war für die Theorie außergewöhnlich. Für zahlreiche Denker, die sich im Sozialismus mit der Phänomenologie beschäftigten, war Marx lediglich eine Durchgangsstation auf dem Weg zu Heidegger. Davor schützte uns Derridas Lesart von Husserl. Was das vulgäre akademische Ausschlachten von Foucault angeht, so war ich lange Zeit davon überzeugt, man könne Foucault ohne Kenntnis der Geschichte der politischen Ökonomie nicht verstehen. Dann aber durchschoss mich der Gedanke, dass Foucault sich selbst nicht verstanden hat, und zwar nicht aufgrund eines fehlenden Studiums der politischen Ökonomie (darauf konnte er zurückgreifen), sondern vielmehr, weil er Marx’ Kapital nicht ernsthaft gelesen hatte. In seinem Buch Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses) ist er blind gegenüber Marx’ epistemologischem Bruch und machte so aus ihm den Epigonen Ricardos. Er wollte mit diesem Buch den geschichtlichen Verlauf heterogener Episteme aufzeigen, jedoch ruinierte ihm sein falsches Verständnis des Kapital das komplette Projekt.”

Wie Stipe Čurković vom Zentrum für Arbeiterstudien, thematisierte auch Močnik das Problem der Kanonisierung, hielt es jedoch für potenziell ertragreich. Derartige Anekdoten verdeutlichen die strategische Bedeutung, welche die Lektüre des Kapital für den universitären Studienverlauf hatte. Das Kapital diente als kanonischer schulischer Lesestoff, der die gesellschaftswissenschaftlichen Problemfelder wieder sichtbar machte. Vor dem Hintergrund eines solchen Problemfeldes konnte sich eine produktive Auseinandersetzung entwickeln: gemeinsame Konzepte, gemeinsame Problemstellungen, all das ermöglichte verschiedene Antworten, unterschiedliche Herangehensweisen. Gerade der agonistische Dialog ist ja die traditionelle Methode der Universitäten”, sagt Močnik. Die mittelalterlichen Universitäten entwickelten von Anfang an eine spezielle Technik für die Produktion und Reproduktion von Wissen, den gelehrten Dialog, die disputatio mit ihren eigenen Regeln für die Auswahl der zu debattierenden Fragen, die Art ihrer Bearbeitung, der Rechtfertigung sowie für die Darlegung einer Position usw. Davon handelt auch Kalanjevs Einleitung zu dem bereits erwähnten kritischen Büchlein, das folgendermaßen beginnt: Ausgehend von der Funktion der Zeitschrift, eine unmittelbare intellektuelle und kritische Kommunikation im Bereich der Kultur und Theorie zu entwickeln, hat der Kulturni radnik sehr häufig und unter verschiedenen Umständen seine Aufmerksamkeit besonders der Würdigung bedeutender kultureller und theoretischer Errungenschaften in unseren Breiten gewidmet. (...) Am fruchtbarsten hat sich jene Form der Erörterung erwiesen, die einer größeren Teilnehmerzahl ermöglicht, ein direktes, kritisches Gespräch über ein Werk zu führen und dabei exemplarisch gleichzeitig die Standpunkte sowohl des Autors als auch ihre eigenen zu überprüfen (...). Ein derart rezipiertes theoretisches Werk hat weitaus größere Chancen, von Anfang an der Verurteilung durch einseitige Bewertungen bezüglich seiner Tragweite und inhaltlichen Bedeutung zu entgehen, egal ob absolut positiv oder absolut negativ.” Močniks Einschätzung der damaligen theoretischen Auseinandersetzungen ist folgende: „Sie ereigneten sich innerhalb eines festen Rahmens aus kanonischen Texten: Den Texten des kirchlichen Kanons wurden Texte heidnischer Provenienz aus der römischen und griechischen Antike an die Seite gestellt. Vom theoretischen Vandalismus der Postmoderne blieben nicht zufällig jene Traditionen vergleichsweise verschont, die ihren eigenen Kanon aufweisen: der Freudismus und der Marxismus.”

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Damit kommen wir zum Thema Marx im Schulunterricht, an dem sich gut der Unterschied zwischen einem ihm freundlich gesinnten Staat – Jugoslawien – und einer Vielzahl anderer, die das heute mit Sicherheit nicht sind, ablesen lässt. „Der schulische Marx ebnete uns den Weg zur zeitgenössischen Theorie, welche uns wiederum auf den theoretischen Marx verwies. Marx‘ strategische Bedeutung für das Studium lag darin, dass nicht jeder schulische Text einen entschiedenen Übergang in die Theorie ermöglicht. Der empiristische Radcliffe-Brown etwa gestattet diesen Übergang nicht, während Marcel Mauss ihn zulässt. Mit dem theoretischen Mauss kann man dann auch Radcliffe-Brown theoretisch lesen. Bereits mit dem schulischen Marx war es möglich, den Strukturalismus, die Anti-Psychiatrie, die Philosophie der Alltagssprache theoretisch zu lesen – und dies waren die attraktivsten Richtungen in unseren Studienjahren.”

Žitko ist anderer Meinung: „Marx’ Kapital wirft zahlreiche Fragen auf: In erster Linie in Bezug auf das Funktionieren des Kapitalismus, aber auch einige metatheoretische Fragen, die sich um den Wertbegriff innerhalb des ökonomischen Diskurses ranken. Allerdings trug ein derart offener und wahrhaft polemischer Text schwer an dem sakrosankten Status, den er auf intellektuellem Gebiet zumindest bis in die 1980er Jahre innehatte. Dieser Status war vielleicht die Ursache für die geringe Auseinandersetzung mit einigen Positionen des Kapital, wie dem Transformationsproblem, dem tendenziellen Fall der Profitraten etc., auf welche in anderen Ländern viel Tinte verwendet wurde.“

Gilt dann die These, dass Marx’ Kapital all denen, die den aktuellen Zustand des sie umgebenden politischen und gesellschaftlichen Lebens analysieren wollten, nur wenig zu sagen hatte? War Das Kapital tatsächlich ein sakrosankter Text oder ein Schauplatz des gelehrten Dialoges, der Disputation? Für Močnik besteht hier kein Widerspruch: „Als uns der theoretische Marx zugänglich wurde, ermöglichte er uns die Analyse historischer Prozesse und bot uns eine Basis für den Kampf gegen Imperialismus und Neokolonialismus. Die jugoslawische Politik der Blockfreiheit bewegte sich weltgeschichtlich auf Neuland und gab den Menschen neue Hoffnung. Der theoretische Marx ermöglichte zudem die Analyse von Widersprüchen, die der jugoslawischen sozialistischen Selbstverwaltung inhärent waren: Auf der einen Seite war er Ausgangspunkt für den Kampf gegen die Staatsparteienbürokratie, die immer mehr in einen konflikthaften ‚Pluralismus’ nationaler (politischer und kulturbetrieblicher) Bürokratien der Föderationsrepubliken zerfiel; auf der anderen Seite lieferte er das theoretische Gerüst für den Kampf gegen Tendenzen zur Restauration des Kapitalismus, das die ‚sozialistische Marktwirtschaft’ mit der ihr innewohnenden Logik hervorbrachte.”

Im Jahr 1981 wurde in Zagreb ein Symposium mit dem Titel Moša Pijade und Marx’ Kapital abgehalten, an dem eine Vielzahl angesehener Persönlichkeiten aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen teilnahm. Was sicherlich überrascht“, sagt Žitko, ist die Zahl der Wortmeldungen [nachzulesen im Tagungsband, der 1982 veröffentlicht wurde], in denen Das Kapital als pädagogisches Werkzeug oder Erziehungsmittel für die Selbstverwaltung schon ab den Mittelschulen wahrgenommen wurde. Es scheint, als meinten einige Teilnehmer, dass sich mit einer eifrigeren Kapital-Lektüre die wirtschaftspolitischen Probleme des damaligen Jugoslawien lösen ließen, oder als versuchten sie, die Aussagen des Kapitals als Messlatte für die Annäherung oder die Abkehr vom sozialistischen Ideal zu nehmen.”

Močniks Historisierung gelingt noch etwas anderes – sie umfasst weitere, in den 1980er Jahren vorherrschende Sujets. Auch fußt sie auf einer anderen Chronologie, obwohl der Epilog überall gleich zu sein scheint: „Der theoretische Marx ermöglichte auch einen Aufschwung systemkritischer linker Bewegungen im Umfeld eines systemkritischen sozialistischen Staates. Die Alternative schuf in Jugoslawien eine einzigartige historische Situation: Auf der einen Seite führten die systemkritischen Bewegungen neue sozialistische Praktiken ein und stießen alternative historische Prozesse an, auf der anderen Seite schützte der systemkritische Staat vor dem Chaos des Kapitalismus, milderte die globalen kapitalistischen Krisen und bewahrte die Möglichkeiten für einen Ausstieg aus dem Kapitalismus.“

Das Nachspiel ist bekannt und war bedauerlicherweise nicht nur theoretischer Natur, sondern forderte in seinem Verlauf auch Menschenleben. Bezogen auf die Theorie, können wir mit Močnik nur konstatieren: Diese[theoretischen und praktischen] Möglichkeiten wurden in den späten 1980er Jahren von nationalistischen Koalitionen innerhalb der politischen und kulturbetrieblichen Bürokratien zerstört, und ihre Handlanger an den Universitäten warfen Marx und den Marxismus aus dem Lehrplan. Damit entfernten sich die akademischen Sozialwissenschaften und die Geisteswissenschaften von der Theorie.”

Die Debatten enden bereits in den 1980ern und flammen 20 Jahre später als Widerhall der globalen Wirtschaftskrise und vor dem Hintergrund der Herausbildung lokaler Varianten des Kapitalismus, die in einigen wichtigen Punkten an diejenigen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern, wieder auf”, postuliert Žitko. Dies gilt zwar für den akademischen und den medialen Mainstream, nicht aber für die Randbereiche der Gesellschaft. Aber wo wurde die Theorie die gesamte Zeit über weiterverfolgt und wo findet dieser Prozess heute statt, wo wurde Marx gelesen und Marxismus praktiziert? Die Antwort ist: an den Rändern der Gesellschaft, wie dort, wo Sie gerade jetzt diesen Artikel lesen.

 

Erstveröffentlichung in der Zagreber Wochenzeitung Novosti als vierteilige Feuilletonreihe. Online: https://www.portalnovosti.com/neprocitana-knjiga

Der nächste Teil widmet sich abschließend dem Interesse an Marx' Kapital, das nach der seit 2008 andauernden wirtschaftlichen und politischen Krise wieder aufgekommenen ist.

Übersetzung Irena Katadžić www.irena-katadzic.com


[i] Branko Horvat (1928-2003), jugoslawischer Ökonom und führender Theoretiker der sozialistischen Selbstverwaltung.

[ii] Aleksander Bajt (1921-2000), jugoslawischer Ökonom.

[iii] Anm. d. Übers.: Auf Deutsch Der Kulturarbeiter oder auch Der kultivierte Arbeiter.

[iv] Anm. d. Übers.: Auf Deutsch Marxistische politische Ökonomie, Zagreb: Stvarnost, 1976.

[v] Anm. d. Übers.: Originaltitel Marksistička politička ekonomija ili marksistička kritika političke ekonomije.