Revolution oder Postrevolution?

Wandmosaik am Café Moskau in Berlin, Karl-Marx-Allee
Wandmosaik am Café Moskau in Berlin, Karl-Marx-Allee Foto: Privat Public Domain

Im Jahr 2017 erschien eine ganze Reihe von Büchern zum Thema Revolution. Jubiläen werden überall geschätzt, auch in der Linken, und trotz des Zerfalls der Sowjetunion vor über einem Vierteljahrhundert bleibt die Bedeutung der Russischen Revolution bestehen. Der Publikationsboom bescherte uns sachliche Titel wie Frank Deppes 1917 | 2017. Revolution und Gegenrevolution, poetische wie Bini Adamczaks Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, und unerwartete (zumindest im Dietz Verlag) wie Philippe Kellermanns Anarchismus und Russische Revolution.

Auch der in Wien ansässige Mandelbaum Verlag hat seinen Beitrag geleistet. Die von Martin Birkner und Thomas Seibert herausgegebene Anthologie Kritik und Aktualität der Revolution erschien in der Reihe „Kritik und Utopie“. Der zweite Absatz der Einleitung lautet: „Die Beiträge dieses Bandes widmen sich der Frage, ob und inwiefern eine revolutionäre Umwälzung heute, 100 Jahre nach der Russischen Revolution, noch möglich und sinnvoll ist.“ Das stimmt aber nur bedingt. Zwar kreisen alle Beiträge irgendwie um das Thema Revolution, Antworten auf die hier formulierte Fragestellung bleiben sie jedoch schuldig. Manche erheben gar nicht erst den Anspruch, mehr als historische Analyse zu sein, andere verfangen sich in schwer greifbarer Rhetorik. Symptomatisch für Letzteres ist der Text eines der Herausgeber, Thomas Seibert. Der abschließende, mit „Was tun?“ betitelte Abschnitt seiner „Drei Thesen zur Existenzökologie der Revolution“ beginnt wie folgt:

„Sich in der alle Krisen der Gegenwart durchherrschenden Krise der Geschichte zur Aktualisierung der Revolution zu befreien heißt auch, sich dem Problem der strategischen Führung eines solchen Prozesses zu stellen. Die Phänomenologie des Geistes des Mai 68 kann zeigen, dass seine Konstellationen je auf ihre Weise genau das versucht haben. Sie haben sich dabei auch dem ‚Dilemma vom Fatalismus der reinen Gesetze und von der Ethik der reinen Gesinnung‘ gestellt und versucht, diesem gegenüber den ‚Gesichtspunkt der Totalität‘ zur Geltung zu bringen: also den Ausgriff auf das Ganze der Welt aus der Singularität einer existenziell-praktisch situierten Perspektive (von lat. perspicere, hindurchsehen, von je einem besonderen Blickwinkel oder Gesichtspunkt her).“

Wem da wenig zu tun einfällt, dem muss verziehen werden.
Natürlich gibt es bei einer prominent besetzten Auswahl an Autor*innen auch einiges zu holen. So ist Michael Hardt und Sandro Mezzadra zuzustimmen, wenn es um die Notwendigkeit geht, „groß zu denken“. Gerald Raunig setzt sich wenigstens mit real existierenden sozialen Bewegungen auseinander. Und Silvia Federici gibt wichtige feministische Impulse. Der für gegenwärtiges revolutionäres Denken wohl wichtigste Beitrag kommt gleich zu Beginn. Karl Reitter dividiert in „Klassenbewusstsein oder Arbeiterbewusstsein? Kann es heute noch eine proletarische Revolution geben?“ ein paar Sachen aus, die gerade angesichts der immer stärker werdenden Rede von einer „Neuen Klassenpolitik“ von Relevanz sind:

„Mein zentrales Argument lautet: Die historische Arbeiterschaft war bloß eine bestimmte kulturelle Ausprägung des Proletariats, welches gegenwärtig zahllose andere Formen angenommen hat. Das bedeutet jedoch auch: Das Arbeiterbewusstsein ist keineswegs Basis oder gar notwendiger Ausgangspunkt des Klassenbewusstseins.“

Weiter:

„Zwischen Klassenbewusstsein und Arbeiterbewusstsein gab es nicht nur kontinuierliche Übergänge, sondern auch klare Gegensätze. Arbeiterbewusstsein ohne Klassenbewusstsein trägt die Bejahung der Verhältnisse in sich. Wir sind Arbeiter, wir sind stolz darauf, wir fordern, gerade weil wir fleißig und ehrlich arbeiten, auch unseren Platz in der Gesellschaft – wie sie ist. Das Klassenbewusstsein ist hingegen verneinend. Es besteht im Kern im Streben nach der Selbstaufhebung des Proletariats als Proletariat. Soziale Verhältnisse, in denen Menschen gezwungen werden ihre Arbeitskraft zu verkaufen, soll es nicht mehr geben.“

Immer wieder taucht in dem Buch der Begriff „postrevolutionär“ auf. Ihm haftet die Zweideutigkeit an, die für alle Post-Begriffe charakteristisch ist: einerseits wird eine Überwindung angedeutet, andererseits ein Festhalten suggeriert. Das Problem ist, dass entsprechende Politikentwürfe oft im Niemandsland enden. Wer die Auffassung vertritt, dass das Zeitalter der Revolution vorbei ist, soll das so sagen, den Reformismus neu bewerten und/oder alternative Wege zur Systemveränderung skizzieren. Das wäre zumindest eine interessante Diskussionsgrundlage. Wer jedoch die Idee der Revolution – aus welchen Gründen auch immer – nicht ad acta legen will, sollte sie inhaltlich füllen. Das wäre womöglich eine noch interessantere Diskussionsgrundlage. Der vorliegende Band bietet eine solche nur beschränkt.

Gabriel Kuhn

Martin Birkner, Thomas Seibert (Hg.), Kritik und Aktualität der Revolution. Wien/Berlin: Mandelbaum, 2017. 258 Seiten. 17 EUR. ISBN: 978385476-668-1