„...nun ist die Zeit zur action gekommen“

Marx’ Widmung für Sigismund Ludwig Borkheim
Marx’ Widmung für Sigismund Ludwig Borkheim Foto: Karl Dietz Verlag Berlin ©

Am 12. April 1867 kam Karl Marx mit dem Schiff »John Bull« in Hamburg an, um den Verleger Otto Meißner zu treffen. In seiner Reisetasche befand sich der letzte Teil des von ihm selbst abgeschriebenen Manuskripts des ersten Bandes des »Kapitals«.

Einen ersten Teil hatte er bereits im November 1866 per Post gesandt. Er traf Meißner jedoch nicht im Büro an, so daß er in Zingg’s Hotel – fünf Gehminuten von dort entfernt – auf ihn wartete. Erst am Abend fand ein erstes Gespräch statt: »Manuskript sofort in sein Verlagshaus gebracht, dort in einen safe gesteckt. Der Druck wird in few days [einigen Tagen] beginnen und rasch vonstatten gehen. Wir kneipten dann, und er erklärte sein großes ›Entzücken‹, meine werte Bekanntschaft gemacht zu haben.« (Marx an Engels, 13. April 1867, in: MEW, Bd. 31, S. 288.) Meißner leitete das Manuskript drei Tage später an seine Hausdruckerei von Otto Wigand nach Leipzig weiter. Marx hoffte, daß der Band Ende Mai erscheinen würde, hatte aber nicht mit der Reaktion der ersten beiden Leser, nämlich Louis Kugelmann und Friedrich Engels, sowie der »Langsamkeit« der Druckerei gerechnet.

Nach seinem etwa fünftägigen Aufenthalt in Hamburg reiste Marx zu seinem Freund, dem Arzt Dr. Louis Kugelmann, nach Hannover, einerseits um Hotelkosten zu sparen, andererseits um die ersten Druckbogen abzuwarten. Kugelmann hatte ihn eingeladen, und er hatte Gelegenheit, nicht nur dessen Familie näher kennenzulernen, sondern auch einige Freunde und Bekannte zu treffen. So vermittelte Kugelmann ein Gespräch mit dem Assistenten des örtlichen Statistischen Büros, einem Herrn Georg Merkel. Außerdem hatte Marx die Möglichkeit, sich eine Fabrik von innen anzuschauen, nämlich die Eisengießerei und Maschinenfabrik AG von Georg Egestorff (ab 1871 Hanomag), die sich seit Anfang der 1860er Jahre neben dem Lokomotivbau für die Preußischen Staatseisenbahnen auf die Produktion von Rohren aller Art spezialisiert hatte – er war von der modernen Technologie beeindruckt. Des weiteren folgte Marx einer Einladung des Präsidenten der dortigen Eisenbahndirektion Herrn Albert Maybach.

Zu Marx‘ Geburtstag am 5. Mai trafen in Hannover die ersten Druckbogen ein und nicht nur Marx, sondern auch Kugelmann machten sich an’s Korrekturlesen. Kugelmann war von der stringenten Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Ausbeutungsmechanismen begeistert, haderte jedoch mit dem Anfang – der Darstellung von Ware und Geld. Er schlug Marx vor, in einem Anhang übersichtlicher die Entwicklung der Wertform nachzuzeichnen. Später bedankte sich Marx bei ihm für diese »Suggestion« (13. Juli 1867, ebenda, S. 552); ja, er würdigte nochmals im Nachwort zur 2. Auflage dessen »Vorschlag« (MEW, Bd. 23, S. 18). Auch Engels erhielt die Druckbogen, hatte jedoch wenig Zeit, sich ins Studium zu vertiefen. In einer ersten Reaktion hob er den »Fortschritt in der Schärfe der dialektischen Entwicklung« als »sehr bedeutend« hervor, meinte jedoch, daß der zweite Druckbogen unter »Karbunkeldruck« – schmerzhafte Eiterbeulen, die Marx lange Zeit plagten – leiden würde (16. Juni 1867, ebenda, Bd. 31, S. 303 f.).

Engels begründete seinen Einwand gegen die vorliegende Darstellung der Wertform:

»Du hast den großen Fehler begangen, den Gedankengang dieser abstrakteren Entwicklungen nicht durch mehr kleine Unterabteilungen und Separatüberschriften anschaulich zu machen. Diesen Teil hättest Du behandeln sollen in der Art, wie die Hegelsche Enzyklopädie, mit kurzen Paragraphen, jeden dialektischen Übergang durch besondre Überschrift hervorgehoben und womöglich alle Exkurse und bloßen Illustrationen mit besondrer Schrift gedruckt. Das Ding würde etwas schulmeisterlich ausgesehen haben, das Verständnis für eine sehr große Klasse Leser aber wesentlich erleichtert worden sein.« (Ebenda)

Er ging damit auf Marx’ Anregung ein, einen »Nachtrag« über die Wertform zu verfassen (3. Juni 1867, ebenda, S. 301). Engels meinte, daß »dem Philister auf historischem Wege die Notwendigkeit der Geldbildung und den dabei stattfindenden Prozeß« nachgewiesen werden sollte (16. Juni 1867, ebenda, S. 303).

Marx hatte also den ersten Vorschlag von Kugelmann akzeptiert und nachdem auch Engels diesen Punkt monierte – denn seine »Satisfaktion ist mir wichtiger als anything die übrige Welt may say of it [alles, was die übrige Welt darüber sagen mag]« (22. Juni 1867, ebenda, S. 305) –, machte er sich an die Ausarbeitung eines Anhangs. Diesmal ging ihm die Arbeit offenbar flott von der Hand, denn schon etwa zehn Tage später übermittelte er Engels die Gliederungsübersicht (27. Juni 1867, ebenda, S. 314–316), hatte ihm aber zuvor schon gewarnt:

»Was die Entwicklung der Wertform betrifft, so habe ich Deinen Rat befolgt und nicht befolgt, um mich auch in dieser Hinsicht dialektisch zu verhalten. D. h., ich habe 1. einen Anhang geschrieben, worin ich dieselbe Sache so einfach als möglich und so schulmei sterlich als möglich darstelle, und 2. nach Deinem Rat jeden Fortschrittssatz in §§ etc., mit eignen Überschriften eingeteilt. In der Vorrede sage ich dann dem ›nichtdialektischen‹ Leser, daß er Seite x–y überschlagen und statt dessen den Anhang lesen soll. Es handelt sich hier nicht nur um Philister, sondern um die wissenslustige Jugend usw.« (22. Juni 1867, ebenda, S. 306.)

Das Erscheinen des ersten Bandes wurde am 14. September 1867 durch das »Börsenblatt des deutschen Buchhandels« gemeldet, die Auslieferung durch die Druckerei hatte am 11. September begonnen, am 17. September trafen die Belegexemplare in London ein und schon am 18. und 19. September versandte Marx Widmungsexemplare an enge Freunde, wie z. B. Wilhelm Strohn, der den Vertrag mit Meißner über die Veröffentlichung des »Kapitals« vorbereitet hatte, Friedrich Leßner, einem Freund seit der 1848er Revolution und Sigismund Ludwig Borkheim, der ihm seit vielen Jahren als »Rußland«-Experte zur Seite stand.

Nun gingen 1000 Exemplare in die Welt und Marx fieberte den Reaktionen entgegen, die jedoch auf sich warten ließen. Einen knappen Monat nach der Auslieferung des Bandes wandte sich Marx ungeduldig an Engels: »…nun [ist] die Zeit zur action gekommen. Du kannst besser über mein Buch [...] schreiben als ich selbst« (10. Oktober 1867, ebenda, S. 360). Engels kam der Bitte nach und sandte zwei Rezensionen an Kugelmann, der für eine anonyme Veröffentlichung in Deutschland sorgen sollte. Nach Meinung von Engels würden sie in »jede bürgerliche Zeitung passen« (Engels an Kugelmann, 12. Oktober 1867, ebenda, S. 563). Es ging darum, auf »Das Kapital« aufmerksam zu machen, damit die Vulgärökonomen »gezwungen werden, sich darüber zu äußern«, und den Kampf gegen deren »Verwässerung« der Ökonomie aufzunehmen.

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Auszug aus dem Vorwort von »Karl Marx. Das Kapital 1.5: Die Wertform«, herausgegeben von Rolf Hecker und Ingo Stützle. Der Band ist im März 2017 erschienen im Karl Dietz Verlag Berlin.