Auswendig gelernt

Büste Karl Marx (1953) des Bildhauers Will Lammert Foto: Wikicommmons SpreeTom CC BY-SA

Von Sündenstolz, Bildersturm und selbstkritischer Aufarbeitung, den ZK-Thesen des Jahres 1983 und einem »Plan der Hauptvorhaben« einer Redaktion - letzter Teil der Serie über Marx und die DDR

Nach dem Kollaps der realsozialistischen Lager sind verschiedentlich Anstrengungen unternommen worden, die eigene Rolle in dieser Geschichte oder aber den Umgang mit Marx in der DDR zu reflektieren. Das hat eine kleine Literatur des Sündenstolzes hervorgebracht, in der es auch ein bisschen darum geht, sich mit Selbstanklagen zu überbieten: Was haben wir da bloß Schreckliches getan. Mit dieser Literatur korrespondiert unfreiwillig jene, die glaubt, der beste Dienst an der untergegangenen Sache sei es, diese ohne größere Einschränkung zu verteidigen: Was haben wir da nicht Tolles getan. Dass es nicht funktionierte, wird hier gern den ungünstigen Umständen, irgendwelchen Embargolisten oder Michail Gorbatschow angehängt. In der Abteilung Sündenstolz wiederum folgt man oft einfach nur dem nächsten Determinismus, nun aber einem, demzufolge der Sieg des Kapitalismus unausweichlich ist.

Teil IV der Serie Marx in der DDR:
Lektüren über die Mauer, Parteibeschlüsse als Wissenschaft und die 1983er Erinnerungslandschaft im Westen.

Es gibt aber auch noch die ernsthafte Selbstbefragung, es muss ja nicht immer eine biografische sein. Georg Fülberth, selbst DKP-Mitglied, fragte sich dabei, »weshalb kritische Menschen die Mängel des Realen Sozialismus nach außen hin unkritisiert ließen. Zwangsdisziplin einer Organisation, der sie sich freiwillig angeschlossen haben, spielt hier eine zentrale Rolle, doch wird dies die selbstforschende Erkundigung nach sich ziehen, weshalb man ebenso freiwillig Mitglied einer Partei blieb, die ein solches Sacrificium intellectus verlangt.« Solche Rechtfertigungen wurden auch angetrieben von der Überlegung, dass »moralische Defekte einer sozialistischen Gesellschaftsordnung dieser nicht wesenseigen, sondern den Umständen geschuldet seien« - wozu Fülberth anmerkt, dass sich ein ähnliches Argument auch in der von den Anhängern des Kapitalismus vorgebrachten Behauptung wiederfinde, bei dessen offensichtlichen Schäden »handele es sich nur um ›Auswüchse‹«.

Fülberths Auseinandersetzung ist eine derer, die »dabeigewesen sind«. Der Autor Dietmar Dath war hingegen 1983 gerade einmal 13 Jahre alt, sein Blick auf den »wissenschaftlichen Sozialismus« ist denn ein anderer: In den »autoritären Wohlfahrtsstaaten des zwanzigsten Jahrhunderts«, schreibt er, »war dieser Name fürs dort Erreichte gebräuchlich. Damals bezeichnete er außerdem die völlige Übereinstimmung einer Aussage mit jeweils passend ausgesuchten Stellen in den Schriften von Marx, Engels, Lenin, zeitweise auch Stalin und anderen.« Dath verteidigt sogar »das Verfahren, die Wissenschaftlichkeit einer Aussage an ihrer Vereinbarkeit mit Kirchenvätertexten zu eichen« ein bisschen gegen den Vorwurf, dies sei »dogmatisch«. Dies habe »aber eine gewisse Berechtigung aufgrund der Tatsache, dass ein gut auswendig gelernter Marx im Zweifelsfall immer noch besser funktioniert und weiter führt, als ein schlecht selbst ausgedachter ›dritter Weg‹«. Dennoch bleibe die »szientistisch verkleidete Orthodoxie vieler Altmarxisten« im Grunde »ein Schiefbau«, wobei der Ärger »für angeblich Marxgläubige überaus beschämend« von einem »schweren Verstoß gegen das schon vom Junghegelianer Marx bei seinem Lehrer aufgeschnappte Prinzip der Historizität von Gedanken« rühre.

Was Dath da im Nachhinein aufgeschrieben hat, konnte auch in der DDR vielfach gedacht werden. Und wurde es sicher auch. Ohne dass man es hätte aufschreiben dürfen. In der Schriftkultur, die das Material hervorgebracht hat, das heute als Beleg aus den Archiven gezogen wird, war es jedenfalls eine Seltenheit. Stattdessen wurde und das gleich tonnenweise, unter Rückgriff auf Lenin gern das schief tönende Lied gesungen, dessen Refrain da lautete: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Diese Wahrheitsbehauptung konnte Schwert werden, und die SED setzte dieses auch ein. Als wahr habe sich, so formulierte es der als »Chefideologe« bezeichnete Kurt Hager in einer Rede zu den »Thesen« des Zentralkomitees für das Marx-Jahr 1983, dessen Lehre »über die historische Mission der Arbeiterklasse erwiesen, unter Führung ihrer revolutionären Partei der kapitalistischen Gesellschaft ein Ende zu bereiten und die sozialistische Gesellschaft zu errichten«.

Dietmar Dath hat dazu rückblickend formuliert, dass das ewige Verweisen auf »deterministisches Zeug«, laut dem man »unfehlbar den Sieg der eigenen Sache« zu erwarten habe, »als Faustregel sicher gut für die Moral der Truppe« gewesen sei. »Aber schlecht für ihren Realitätssinn.« Das ist wohl richtig, es gab aber noch eine andere Seite, nämlich die Unmoral »der Truppe«, vulgo: das, was sie ihren »Gegnern« mittels Repression, Beschweigen, Versetzung und dergleichen antun konnte. Mit den »Thesen« des ZK war ja 1983 auch gleichermaßen eine Grenze neu gezogen worden - eines für das Denken, für das Reden. Sie zu überschreiten, das wusste man in der DDR, würde eine Strafe nach sich ziehen.

Der Beleg für Hagers Wahrheitshuberei sollte natürlich die DDR sein, das musste der SED-Mann in diesem Gremium nicht eigens betonen. Er sprach von den »großen Aufgaben«, davon, die Menschen »noch gründlicher mit den Lehren des Marxismus-Leninismus vertraut zu machen«. Wenn, so endet die Rede, »wir das Jahr 1983 durch zielstrebige Tätigkeit der Partei, zu einem Jahr der ideologischen Offensive des Marxismus gestalten, dann handeln wir zweifellos im Sinn unseres großen Lehrmeisters, Karl Marx.« Weshalb man von »der Presse und den anderen Massenmedien« natürlich »eine lebendige beweiskräftige und anschauliche Propagierung der Lehren des Marxismus« erwarte.

Marx als Höhepunkt

Dem Zufall überlassen wurde das jedoch nicht. In einem »Plan der Hauptvorhaben der Redaktion« des Zentralorgans hieß es, für »Neues Deutschland« stehe nicht nur wie üblich »die lebensnahe Propagierung der prinzipiellen Beschlüsse« der jeweils letzten ZK-Tagungen und Parteitage an, sondern auch, den »Nachweis« zu führen, »dass die großen Aufgaben, die wir uns für das Karl Marx-Jahr 1983 stellen, richtig und real sind, weil wir uns auf das bisher Erreichte stützen können«. Die SED verlangte, den Beweis für etwas zu führen, das in ihren Augen gar nicht anders gewesen sein konnte. So hätte sich dieser Beweis eigentlich erübrigt. Und es hätte auch keines 41 Seiten umfassenden »Planes der Hauptvorhaben der Redaktion« bedurft, in dem der Bezugspunkt Karl Marx zu einem »Dach« erklärt wird, unter dem »auch alle weiteren Ereignisse des Jahres in der politisch-ideologischen Arbeit einzuordnen« seien. Von der faschistischen Bücherverbrennung bis zur geschichtlichen Rolle Luthers.

Der »Plan der Hauptvorhaben« sah nicht nur vor, die planwirtschaftlichen Wettbewerbslosungen in allerlei Formen darzulegen, weshalb etwa über »höchste Leistungen auf den Feldern und in den Ställen durch komplexe Intensivierung« berichtet werden sollte, sondern legte auch fest, dass die Redaktion in einer Serie zum Jubiläumsjahr 1983 der Frage nachzugehen habe, »was die Frauen Karl Marx verdanken«. In Leitartikeln sollten alle Themen so behandelt werden, dass darin gezeigt werde, »wie uns die marxistisch-leninistische Theorie Anleitung zum Handeln ist«. Zu den Gedenktagen im März und Mai gab sich das Zentralorgan auf, »Höhepunkte in der Würdigung von Leben und Werk« abzuliefern.

Gültigkeit hatte der »Plan der Hauptvorhaben« bis zur Internationalen Marx-Konferenz im April 1983. Unter journalistischen Gesichtspunkten, auch wenn das, was man heute dafür hält, nicht so ohne weiteres auf die Arbeit eines Zentralorgans übertragbar ist, war diese der eigentliche Gipfel - so stand es denn auch auf der Titelseite der Ausgabe vom 11. April: »Höhepunkt im Karl-Marx-Jahr 1983. Heute wird in Berlin die Internationale Wissenschaftliche Konferenz eröffnet.«

Schon in den Tagen zuvor hatte ND sogar Meldungen über das Eintreffen von Teilnehmern für Seite-1-würdig gehalten, doch was die Berichterstattung über die Tagung selbst angeht, so blieb diese in den letzten Jahren der DDR dann unübertroffen: 13 von 16 Seiten waren in der Ausgabe vom 12. April im Wesentlichen dem Abdruck von Reden vorbehalten, jeweils 15 von 16 Seiten in den folgenden Ausgaben, und in der Montagsausgabe vom 18. April 1983 dann noch einmal 19 von 24 Seiten - so umfangreich war das Zentralorgan praktisch nie. »Über die Leistungen des realen Sozialismus auf deutschem Boden informierten sich am Wochenende bei Exkursionen in Berlin und in mehreren Bezirken der Republik zahlreiche Vertreter von Parteien und Bewegungen, die an der Internationalen Wissenschaftlichen Karl-Marx-Konferenz teilgenommen hatten«, konnte man dann dort auch lesen, gefolgt von einer ellenlangen Auflistung der jeweiligen Besuchsorte.

Marx-Büste im Bildersturm

Näheres über eine ganz bestimmte Sehenswürdigkeit, zumal eine in Ostberlin, suchte man im ND damals aber vergebens: die eigens zur Konferenz am Strausberger Platz aufgestellte Marx-Büste des schon in den 1950er Jahren verstorbenen Künstlers Will Lammert. Der hatte den markanten Kopf bereits für das Marx-Jahr 1953 angefertigt, der erste Abguss der Arbeit stand seither vor dem Senatssaal der Humboldt-Universität. Weil aber das lange geplante Marx-Engels-Forum immer noch noch fertig war, fehlte 1983 ein öffentlicher Ort der Erinnerung an Marx in Berlin - was den damaligen Bezirkschef der SED, Konrad Naumann, zu einer offenbar eigenmächtigen Aktion veranlasste: Es wurde ein zweiter Abguss der Marx-Büste von Lammert angefertigt und eilig am Beginn der Karl-Marx-Allee aufgestellt. Die angereisten Delegationen konnten ihre Kränze niederlegen.

Offenbar erhielt der Rest der SED-Spitze von der Büste erst dadurch überhaupt Kenntnis, was Folgen haben sollte. Nach Ende der Konferenz kam das Thema auf die Tagesordnung des Politbüros. Im April 1983 beschloss das Gremium, den SED-Vorsitzenden höchstselbst zu beauftragen, mit Naumann »über die ohne Beschluss erfolgte Errichtung … zu sprechen«. Um den Statthalter in der Hauptstadt hatte es schon damals konfliktreiche Diskussionen gegeben, 1985 wurde er schließlich von seiner Position abgesetzt.

Über den Verlauf des Gesprächs zwischen Erich Honecker und Naumann ist nichts überliefert. Wohl aber über das Schicksal des anderen Berliner Marx-Kopfes von Lammert. Die Büste, die »überragende Intelligenz, Festigkeit des Willens, Klarheit der Gedanken, historische Weitsicht« ausstrahlen sollte, verschwand Anfang der 1990er Jahre. Der Kustodin der Hochschule, Angelika Keune, war 1991 vom damaligen Uni-Kanzler mitgeteilt worden, »dass ein Anschlag auf die Büste geplant sei und sie deshalb im Magazin der Kustodie sichergestellt wurde: die Hausmeister der HU hatten sie bereits ins Magazin getragen.« Was es mit dem vermeintlichen Attentat auf den Bronzekopf auf sich hat, liegt heute im Dunkeln. Allerdings waren seinerzeit schon die Gedenktafel für Karl Marx vom Hauptgebäude der Universität gestohlen worden, einer Gedenktafel für Lenin am Eingang zur Kommode erging es ebenso.

Und wo wir schon bei Will Lammert sind, die Geschichte seiner Marx-Arbeit hat noch einen Jenenser Ableger. An der dortigen Universität war der zwar nie, er hatte aber seine Dissertation an der Universität im Thüringischen abgelegt. Anlass für die SED, auch dort 1953 eine Marx-Büste aufzustellen - auf einem recht hohen Sockel vor dem Hauptgebäude der Universität am Fürstengraben. Auch diese Arbeit stammt vom Bildhauer Will Lammert, die heute noch verfügbaren Fotografien legen nahe, dass es sich um einen weiteren Abguss der Büste handelt, die 1953 erstmals in Berlin enthüllt wurde.

Der Marx von Jena ist inzwischen aus der Öffentlichkeit verbannt worden. Bemühungen der örtlichen Linkspartei, eine Wiederaufstellung des Lammert-Marxes am alten Ort vor der Universität oder doch wenigstens die öffentliche Zugänglichkeit zu erreichen, scheiterten bisher - ein neuer Anlauf ist Mitte April gemacht worden. 2008 votierte der Kulturausschuss der Stadt noch gegen die Wiederaufstellung. Nun gab es dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Stadtrat, »nach längerer, teilweise heftig geführter Diskussion«, wie es bei der Partei heißt. Die einen mahnten, wer Marx-Büsten aufstelle, dürfe die Opfer derer nicht vergessen, die sein Werk für Herrschaftszwecke missbraucht haben; die anderen verweisen auf die unbezweifelbare Rolle von Marx für Philosophie, Politische Ökonomie, Arbeiterbewegung. Mitunter fanden beide Sichtweisen auch in der Position einer Person zusammen. »Marx ist eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die die Frage der Gerechtigkeit von einer Seite angepackt hat, wie es andere nicht taten«, wird SPD-Oberbürgermeister Albrecht Schröter zitiert.

Freilich kann die Stadt nicht selbst agieren. Die Büste gehört der Universität, OB Schröter soll nun Gespräche führen - bereits zum dritten Mal, die Hochschule zeigt sich verhandlungsbereit. Ziel ist, dass Lammerts Arbeit zum 200. Geburtstag im kommenden Jahr wieder vor der Uni steht. »Karl Marx gilt als einer der bedeutendsten Universalgelehrten in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts«, so hatte die Jenaer Linkspartei ihren Antrag begründet. Marx kommender Jahrestag sollte »ein willkommener Anlass sein«, sowohl »auf seine wissenschaftlichen Leistungen als auch darauf zu verweisen, dass er die Jenaer Universität für die Einreichung seiner Promotion ausgewählt hat«.

Doch selbst die Wiederaufstellung würde eines nicht vergessen machen - ein Vierteljahrhundert, in denen Marx aus der Öffentlichkeit verbannt war. Man könnte sagen: Auch das Verschwindenlassen ist eine Form, auf die DDR zurückzuschauen. Ein Fall von Ikonoklasmus gegen die Bilderproduktion der SED. Beides könnte man Varianten ganz besonders »deutscher Zustände« nennen. Karl Marx hätte vielleicht dazu geschrieben: »Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik.«

Aber vielleicht ist das auch nur ein Bild, das man sich nachträglich von ihm macht.