Warum Marx- und Revolutionsjubiläen zusammen gehören

Marx und Revolution Foto: Privat Public Domain

 

 

In Reaktion auf den Start unseres Webprojektes Marx200 wurde in den social media die Frage aufgeworfen, ob die russischen Revolutionen des Jahres 1917 in diesem Kontext richtig platziert seien. Ich meine ja. Marx verstand sein Wirken und Werk als gesellschaftsveränderndes Eingreifen – und die Ereignisse des Jahres 1917 waren von diesem Verständnis einer Einheit von Theorie und Praxis geprägt.

Unwesentlich ist dabei, ob „Marx das so gemacht hätte“, ob er „verantwortlich“ sei. Fakt ist, das viele Befürworterinnen und viele KritikerInnen, AktivistInnen und ZuschauerInnen ihre Positionen aus dem marxschen Schaffen bezogen. Marx selbst betrachtete die Praxis als Prüfstein der Theorie. Man kann die Frage stellen, inwieweit die Praxis 1917 die theoretischen Ansichten Marx‘ bestätigen oder nicht, an welchen Stellen sie keine Antworten mehr geben konnten, wo sie entwicklungsbedürftig waren bzw. sind. Aber Marx ohne 1917 oder 1917 ohne Marx zu diskutieren erscheint mir unmöglich.

Um dieses Problem zu diskutieren beginnen wir mit einem Gemeinplatz: Um gesellschaftliche Umbrüche und ihre Folgen bewerten zu können, muss man wissen, welche Ursachen ihnen zu Grunde liegen. Das Werden einer revolutionären Situation erklärt uns,

  • welche Möglichkeiten im Alten geschaffen wurden,
  • welche Akteure in welcher Weise handeln
  • welchen Grenzen dieses Handeln unterworfen ist.

Der Verlauf der Revolution selbst erklärt sich daraus aber nur zum Teil. Indem soziale Akteure und Individuen ihre bisherige Stellung in der Gesellschaft verlassen oder aus dieser Stellung verdrängt werden, löst sich das Geschehen von den Ursachen. Wenn im Zuge revolutionärer Ereignisse die materiellen Grundlagen der Gesellschaft verändert oder auch zerstört werden, können sich die ursprünglichen Ziele der Akteure, wie auch ebenso die Möglichkeiten folgender Entwicklungen verändern. Die Rolle einzelner sozialer Gruppen verändert sich, möglicherweise entstehen sogar neue Akteure. Es gibt also keine Linearität – das galt für alle bürgerlichen Revolutionen, das gilt bis heute für jede Revolution, auch für die Revolutionen in Russland 1917. Im Verlaufe der Revolution verliert sich in der Unübersichtlichkeit der Ereignisse das Bewusstsein ihres Ausgangspunktes, er verliert an Bedeutung. Nach der Realisierung des ersten Schrittes, meist des Sturzes einer bestimmten Regierung, beginnt ein gesellschaftlicher Suchprozess, da etwas geschaffen werden muss, was es noch nicht gab. Es geht nicht um die Fortsetzung des Alten in neuer Form, sondern der Inhalt und die Formen gesellschaftlicher Entwicklungen verändern sich gleichzeitig. Dabei wird sich manchmal das Neue in alten Formen präsentieren. In diesem Sinne müssen Revolutionen immer über das, was im gegebenen Moment möglich ist, hinausgehen, sie müssen einen Überschuss an neuen Ideen, Praxen und Projekten hervorbringen und auf ihre Anwendbarkeit prüfen. Dabei werden die Revolutionäre von gestern schnell zu Verrätern im Heute – tatsächlich oder in Wahrnehmung der Handelnden. Das alles gilt in höchstem Maße gerade für Revolutionen, in denen es nicht um die Ersetzung einer herrschenden Klasse durch eine andere geht, sondern die die menschliche Emanzipation in den Mittelpunkt stellen. Und das war der entscheidende Bezugspunkt für Marx.

Viele der AktivistInnen der Revolutionen des Jahres 1917 verstanden sich als MarxistInnen oder waren von marxistischen AgitatorInnen geschult. Nicht nur die meist hervorgehobenen Personen Plechanow und Lenin bezogen sich auf Marx, auch andere AktivistInnen aus den Reihen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre taten das. Diese Bezugnahmen waren gelegentlich auch kritisch oder ablehnend – aber sie waren für Konzepte und Praxen wichtig. Nicht zuletzt gründeten sich die Reaktionen auf die Revolutionen unter den SozialdemokratInnen der II. Internationale auf ein bestimmtes Verständnis des marxschen Ansatzes. Daher ist es angebracht, an dieser Stelle einige Bemerkungen zur Sicht von Marx auf Revolutionen zu machen.

Marx hielt 1852 fest:

"Proletarische Revolutionen…kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche…“ (Marx 1982 [1852])

Dieser Gedanke ist konstituierend für das marxsche Revolutionsverständnis. Einer proletarischen Revolution muss das Moment der Selbstkritik immanent sein. Er baut damit einen Gedanken aus den Feuerbachthesen von 1845 aus:

»Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist (z.B. bei Robert Owen). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« (Marx 1981 (1845))

Die „Erziehung der Erzieher“ in der Praxis, die Ablehnung von „Erhabenheit“ werden hier problematisiert und hohe Maßstäbe an die Qualitäten revolutionärer AktivistInnen formuliert.

Für die hier zu betrachtenden Prozesse ist ein weiteres Moment des marxschen Revolutionsverständnisses wichtig: die Frage der materiellen Voraussetzungen. Wie bekannt sahen Marx und Engels einen hohen Entwicklungsstand der Produktivkräfte als zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer proletarischen Revolution an:

„Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (Marx 1961 [1859], 9)

Bereits in der Deutschen Ideologie stellten er und Engels fest, dass ein hoher Entwicklungsstand der Ökonomie unabdingbar für eine nachkapitalistische Gesellschaft sei, weil andernfalls „nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste“. (Marx und Engels 1981, 34f.)

Ganz in diesem Sinne versteht er die proletarische Revolution als ein globales Ereignis.

Er thematisiert also hier die Grenzen von proletarischen Revolutionen – ein Gedanke, den er in der Kritik des Gothaer Programms ausbaut. Hier betont er, dass nach der Machtergreifung erst einmal nicht das Versprechen der Gleichheit realisierbar sein dürfte. Vielmehr würde erst einmal der „bürgerliche Rechtshorizont“ erhalten bleiben in Form der Verteilung nach der Arbeitsleistung. (vgl. Marx 1987 [1875], 18-20)

Im Jahre 1881 sieht er drei Faktoren, die für den Ausbruch einer „wirklich proletarischen Revolution“ wesentlich sind: die wissenschaftliche Einsicht in gesellschaftliche Prozesse, der Druck der Regierungen auf die Lage der Massen und die Entwicklung der Produktionsmittel. Das sei die Bürgschaft, dass die Revolution auch die nächsten (er setzt hinzu „wenn auch sicher nicht idyllischen“) Schritte bestimmen könnte. (vgl. Marx 1979 [1881], 161)

Es zeigt sich also, dass Marx‘ Revolutionsverständnis bedeutend komplexer war, als das ihm oft zugeschrieben wird. Er betonte die absehbare Widersprüchlichkeit und möglichen Grenzen des Machbaren im Moment des Umsturzes. Die proletarische Revolution ist ihm, wie auch die bürgerliche, ein langfristiger Prozess, der mit einem Akt, der für sich in Anspruch nimmt, die Machtfrage geklärt zu haben, nicht zu Ende ist. Als Michail Gorbatschow 1987 erklärte, dass die Revolution weitergehe, verstieß er damit gegen ein jahrzehntealtes Dogma… (Gorbatschow 1987, 3)

Das Problem der Grenzen wird offensichtlich, wenn wir die Situation in Russland zu betrachten haben. Und diese Grenzen waren auch Ausgangspunkt der Kritik an der revolutionären Strategie der Bolschewiki, namentlich Lenins, in marxscher Tradition - z.B. durch Rosa Luxemburg. (Materialen zu dieser Kritik und der sich darum entwickelnden Debatte können unter hier abgerufen werden.) Luxemburg beschreibt die Situation der russischen RevolutionärInnen als Dilemma: die Verhältnisse sind in der Realität „reif“ – die Massen müssen die Macht ergreifen, soll das Land nicht in tiefe Reaktion zurück fallen; die Verhältnisse sind aber gleichzeitig eben noch nicht „reif“ – der Umsturz hat eine Massenbasis, der Sozialismus hat sie aber nicht. Zwei der o.g. drei von Marx angemerkten Bedingungen einer „wirklich proletarischen Revolution“ waren nicht gegeben: weder bestand in den Massen eine hinreichende „wissenschaftliche Einsicht“, noch waren die Produktionsmittel entsprechend entwickelt.

Was bedeutet in dieser Situation „Selbstkritik“ und „sich Unterbrechen“ der Revolution? Für Lenin und die Bolschewiki hieß das erst einmal, durchzuhalten und auf die Revolution „im Westen“ zu warten. Aus diesem Warten wurde dann aber schnell der Versuch, sie von außen zu beschleunigen. Das Konzept scheiterte. Die einsetzende Kritik und Selbstkritik wendete sich schnell, eigentlich schon 1918, in eine Legitimierung des revolutionären Aktes im November 1917 um jeden Preis, ohne das Dilemma auszusprechen und die Grenzen des Momentes ernst zu nehmen. Die fehlenden Voraussetzungen für die Vollendung der Revolution sollten nun mit Hilfe des proletarischen Staates geschaffen werden; genauer: dieser Staat sollte die Stütze sein, die der Schaffung sozialistischer Verhältnisse durch die Gesellschaft eine Basis geben sollte. Der entstehende Staat war dazu aber nicht in der Lage, wie sich Ende der 1980er Jahre endgültig mit seinem Zusammenbruch bestätigen sollte. Das in der angeführten Feuerbach-These beschriebene Problem einer Praxis, die Menschen die Möglichkeit gibt, sich entsprechend der von ihnen selbst veränderten Umstände zu verändern und gleichzeitig die „Erzieher“ in diese Umwälzungen organisch einschließt, konnte nicht gelöst werden. Der in der Feuerbachthese intendierte permanente Rollenwechsel von „Erziehern“ und „Erzogenen“ fand nicht statt, das System erstarrte in einem Gegeneinander der beiden Seiten.

Rosa Luxemburg griff den konsequent internationalistischen – oder man kann auch sagen globalen – Standpunkt Marx‘ auf und leitete daraus eine doppelte Kritik ab: Die vernichtende Kritik an der deutschen Sozialdemokratie, die sich als unfähig erwies, den Schritt zu einer proletarischen Revolution zu gehen, und damit die russische Revolution zu einer wirklich sozialistischen zu machen; dementsprechend falle der deutschen Sozialdemokratie die Hauptverantwortung an dem Niedergang der russischen Revolution zu; und die Kritik an den Bolschewiki, die sich aus ihrer Sicht als unfähig erwiesen, den emanzipatorischen Geist der proletarischen Massenbewegung konsequent zu bewahren. Sie stellte nie das redliche Bestreben der revolutionären AkteurInnen in Frage – aber konstatierte das Dilemma: an die Stelle der handelnden Massen trat eine Kaderpartei, genauer ein Parteiapparat. Die Geschichte sollte ihr, unbesehen vieler emanzipatorischer Ansätze im Realsozialismus, Recht geben.

Wenn Gramsci die russische Revolution als „Revolution gegen das Kapital“ bezeichnete, ist das genau genommen falsch. Richtiger wäre gewesen zu sagen, dass sie eine Revolution gegen eine Lesart des „Kapital“ war (das ist auch die Intention dieser Formel), die aus dem Werk eine Linearität bzw. einen rein parlamentarischen, quasi verwaltungsgesteuerten Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus heraus destillieren wollte. (vgl. Gramsci 1991 [1917], 31f.) Das „Kapital“ beschreibt das Werden des Kapitalismus und der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft als widersprüchlichen Prozess. In diesem Prozess haben wir es mit widerstreitenden Tendenzen zu tun, durchkreuzen sich die Interessen, Motive und Wünsche der verschiedenen Akteure und bringen etwas hervor, was von diesen Interessen usw. durchaus verschieden ist. Marx zeigt, wie der Kapitalismus über sich selbst hinausweist und Zwänge bewussten gesellschaftlichen Handelns hervorbringt. Die Revolutionen des Jahres 1917 wurde von vielen Revolutionären als die Überwindung der in der alten Ordnung vorhandenen Begrenzungen verstanden. Hier liegt die entscheidende innere Verbindung zwischen den Marx- und den Revolutionsjubiläen: Es ging darum, Grenzen zu überschreiten, sich aber auch Grenzen bewusst zu sein. Es ging darum, die Suche nach dem Weg menschlicher Emanzipation, dem zentralen Anliegen Marx‘, weiterzutreiben. Suche bedeutet ständige Kritik. Damit schließt sich der Kreis – es geht in marxscher Tradition um die Kritik der Schwächen, Halbheiten, Erbärmlichkeiten der ersten (und der folgenden wie auch der gegenwärtigen) Versuche und zu verstehen, wie diese Versuche die Welt und die linken Bewegungen verändert haben und bis heute in ihnen wirken. Anlass dazu gibt es genug – die Unfähigkeit zu einer wirksamen Solidarität mit Syriza in Griechenland oder zum produktiven Umgang mit Regierungsbeteiligungen in Deutschland sind ganz aktuelle Beispiele.

Quellen und zum Weiterlesen

Gorbatschow, Michail S. 1987. "Der Oktober und die Umgestaltung: Die Revolution wird fortgesetzt." In Neues Deutschland vom 3.11.1987:3-7.

Gramsci, Antonio. 1991 [1917]. „Die Revolution gegen das "Kapital"“. In Antonio Gramsci - vergessener Humanist? Eine Anthologie 1917-1936, hrsg. von Harald Neubert, 31-35. Berlin: Dietz Verlag (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/gramsci/1917/11/antikap.htm)

Marx, Karl. 1961 [1859]. "Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft." In Karl Marx / Friedrich Engels Werke Band 13, 3-160. Berlin: Dietz Verlag. (http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_003.htm)

Marx, Karl. 1979 [1881]. "Marx an Ferdinand Domela Nieuwenhuis in Den Haag." In Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 35, 159-161. Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl. 1981 [1845]. "[Thesen über Feuerbach]." In Karl Marx/ Friedrich Engels Werke, Bd. 3. Berlin: Dietz Verlag. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1845/thesen/index.htm)

Marx, Karl, und Friedrich Engels. 1981 [1845/1846]. "Die deutsche Ideologie." In Karl Marx / Friedrich Engels Werke Band 3, 9-530. Berlin: Dietz Verlag. (http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_009.htm)

Marx, Karl. 1982 [1852]. "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte." In Karl Marx / Friedrich Engels Werke Bd. 8. Berlin: Dietz Verlag Berlin. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1852/brumaire/index.htm)

Marx, Karl. 1987 [1875]. "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programms)." In Karl Marx/Friedrich Engels Werke Band 19, 11-32. Berlin: Dietz Verlag. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1875/kritik/index.htm)

Schütrumpf, Jörn (Hrsg.). 2017. „Diktatur statt Sozialismus: Die russische Revolution und die deutsche Linke 1917/18“. Berlin: Karl Dietz Verlag.