Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik…

Foto: Marycula

Die diesjährigen Meisterschaften im beliebten Wettstreit »Zeitgeistige Marx-Beerdigungen« laufen zwar noch eine Weile - für einen Platz weit vorn hat sich nun aber bereits die »Frankfurter Neue Presse« qualifiziert. »Taugt Marx für die Gegenwart?«, heißt das Stück und kann mit erstklassigen Darbietungen aufwarten - das gibt hohe Punktzahlen in allen Einzeldisziplinen.

Los geht es mit der pflichtschuldigen Anerkennung, »Das Kapital« zähle »zu den wirkmächtigsten Werken der Neuzeit«. Vorbildlich wird dann sogleich aber Wasser in den Wein gegossen, indem erstens verkündet wird, dass viele das Buch nicht verstanden haben, und zweitens Zweifel »am intellektuellen Gehalt« der Kritik der Politischen Ökonomie geäußert werden. Auch habe Marx »weit ausgeholt«, was nun wirklich endlich auch einmal gesagt werden musste!

Richtig durchblicken kann natürlich nur, wer zu den Marx-Verstehern gehört, also der Autor. Wobei es immer auf das »richtige« Verstehen ankommt. Die sich sozialistisch oder kommunistisch nennenden »Anwender« von Marx sind eben nur auf die Idee von »Rezepten« gekommen, die in den »Planwirtschaften Osteuropas« scheiterten - siehe Versorgungsengpässe und prekäre Menschenrechtslage. Hohe Wertungen bekommen Texte in dieser Einzeldisziplin vor allem dann, wenn eine möglichst direkte Verbindung von Marx zu den parteiautoritären Kommandogesellschaften wenn schon nicht gezogen, so doch auch nicht kritisch problematisiert wird. Inklusive der Behauptung eines Menschenbildes, das zwar den vom Grunde her egoistischen »Arbeitnehmer« kennt, aber offenbar nicht einmal weiß, wer im Kapitalismus die Arbeit nimmt - und wer sie gibt.

Extrapunkte bringen auch Aussagen wie: »Die Stärken von ›Das Kapital‹ liegen in der Offenlegung der Machtverhältnisse, die das Wirtschaftssystem des 19. Jahrhunderts prägten.« Besser kann man kaum davon ablenken, dass es dem Alten aus Trier eigentlich darum ging, er nannte das den »letzten Endzweck dieses Werks«, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft »zu enthüllen« - was sich weder auf »Machtverhältnisse« noch auf eine bestimmte Zeitperiode beschränken lässt. Deshalb auch hier: Volle Punktzahl.

Für einen späteren Medaillen-Platz hilfreich ist auch die Konzession, zumindest »die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus« sei für jedermann auch heute sichtbar und niemand solle »die Augen vor den Schattenseiten des kapitalistischen Systems« verschließen, Stichwort: »völlig ungezügelter Kapitalismus«. Das Problem sind also die Zügel, die fehlen. »Wie also kann es weitergehen, eineinhalb Jahrhunderte nach der Erstauflage von ›Das Kapital‹ und ein Jahrzehnt nach dem Beginn der Finanzkrise?« Es kömmt darauf an, wie der Gedanke dann weitergeht - und hier wird er geradezu olympiareif präsentiert: »Die Antwort auf diese Frage lautet weder ›Kapitalismus‹ noch ›Sozialismus‹ oder ›Kommunismus‹, sondern ›Soziale Marktwirtschaft‹.«

Hier wird natürlich eine Sonderwertung fällig, denn bloß den heiligen Gral des bundesdeutschen Wirtschaftsselbstverständnisses anzuleuchten, dafür gibt es nicht schon den Podestplatz. Aber dafür: »Entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses handelt es sich dabei nicht um eine Marktwirtschaft, in der der Staat möglichst viel Einkommen und Vermögen umverteilt.« Sondern? Genau: Sozial ist eine Marktwirtschaft, in der »der Einzelne eben nicht auf staatliche Hilfen angewiesen, sondern seines eigenen Glückes Schmied sein soll«. Glück. Schmied. Wunderbar. Wozu auch irgendwie »Ordnungsrahmen« (Bonuspunkt) und die Förderung von »Selbstverantwortung« (nochmal Bonuspunkt) beitragen.

Der Autor, Stefan Schäfer, der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden ist, weiß natürlich über unsere tolle soziale Marktwirtschaft zu sagen: »Hier liegt Einiges im Argen.« Beim Schweinsgalopp der Beschönigung des Status quo macht es eine besondere Figur, wenn trotzdem ein Winkelement der Kritik geschwenkt wird. In diesem Fall haben Internetkonzerne zu viel Macht, ist die Nullzinspolitik doof, weil sie »langfristige Vermögensplanung« erschwert, und außerdem hat es »nichts mit Selbstverantwortung zu tun, wenn Banker zuerst die Weltwirtschaft ruinieren und dann ihre Boni nicht zurückzahlen müssen«. Hätten sie doch die Boni zurückgezahlt!

Was Marx zu alledem gesagt hätte? Keine Ahnung, aber Professor Schäfer weiß: »Karl Marx hat dazu einige richtige Fragen gestellt. Die marxistischen Antworten jedoch sind allesamt falsch.« Im Gegensatz zu allem, was der Ludwig Erhard einmal aufgeschrieben und der Professor Schäfer gelesen hat. Wir wissen jedenfalls nun, dass, wer »die Welt verbessern will«, nicht »Das Kapital« lesen sollte, sondern »Wohlstand für Alle«. Da bringt der Sportreporter nurmehr Superlative über die Lippen: Endspurt mit großem Vorsprung, Jubel im Zielbereich, bange Blicke auf die Anzeigetafel - ist es womöglich ein Rekord?

Eines allerdings hätten wir dann schon gern gewusst: Woher die Überzeugung rührt, Marx sei mit dem ersten Band in der Hand im September 1867 unsicher gewesen, »ob es sich dabei um einen Flop handelte oder um sein Meisterstück«? Aber das lesen wir nochmal nach, am besten in den Briefen - im April 1867 war Marx immerhin noch der Auffassung, das Buch sei das »furchtbarste Missile, das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist«. Und Im Oktober (vom September 1867 ist kein Brief aus seiner Feder überliefert) schreibt er an Ludwig Kugelmann: »Gediegene Kritik - sei es von Freund oder Feind - kann nur nach und nach erwartet werden, da ein so umfangreiches und teilweis schwieriges Werk Zeit zum Durchlesen und Verdauen fordert. Aber der nächste Erfolg ist nicht durch gediegene Kritik bedingt, sondern, um es platt herauszusagen, durch Lärmschlagen, durch Rühren der Trommel, welches die Feinde auch zwingt zu sprechen.«

Damit sind natürlich nicht die »Frankfurter Neue Presse« und der Herr Wiesbadener Professor gemeint. An die hatte Marx sich ja schon im Vorwort zur ersten Auflage gewandt: »Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen. Gegenüber den Vorurteilen der sog. öffentlichen Meinung, der ich nie Konzessionen gemacht habe, gilt mir nach wie vor der Wahlspruch des großen Florentiners: Segui il tuo corso, e lascia dir le genti!« Aber das war schon im Juli 1867. Spiel, Satz und Sieg.