Postkommunistische Parteien in Osteuropa

Spätestens im Zusammenbruch des Realsozialismus  um 1989 wurde offensichtlich, dass es nie eine homogene Marx-Rezeption in den osteuropäischen realsozialistischen Ländern gab.  Selbst innerhalb der herrschenden kommunistisch-marxistischen Parteien gab es widersprüchliche Strömungen.

Hintergrund: Diskreditierung  des Marxismus vor 1989

Für den Niedergang der marxschen Strömung als organisierende Kraft dürfte der Abbruch der jeweils eigenen Traditionen nach-marxschen Denkens im Zuge der stalinschen „Säuberungen“ Bedeutung gehabt haben, wie etwa die Vernichtung der „alten Garde“ der polnischen KommunistInnen. Zudem schienen die in Agitation und Propaganda verkürzten Marx-Interpretationen oft der Realität des Realsozialismus zu widersprechen. Damit verwandelte sich die marxsche Tradition im Bewusstsein breiter Kreise in eine von außen hineingetragene, fremde Weltsicht. Wirklich stabil verankert war Marxismus in Teilen des akademischen Raumes, unter politischen AktivistInnen und in den Parteiapparaten. Hier allerdings war er oft nur als Legitimation des eigenen Handelns gegenüber anderen Instanzen ohne handlungslenkende Bedeutung präsent.

Trotz aller durchaus emanzipativer Errungenschaften und durchaus vorhandener gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisfortschritte in marxscher Tradition war so das marxsche Erbe 1989 nur flach verwurzelt und weitgehend diskreditiert. Daran änderten die vorhandenen eigenständigen marxistischen Richtungen nichts. Oskar Lange oder Tadeucz Kowalik in Polen, Ota Sik (bis 1968 in der Tschechoslwakei - CSSR), die Praxis-Gruppe in Jugoslawien, Petar-Emil Mitev in Bulgarien und Georg Lukasz oder Janos Kornai (wenigstens in seiner frühen Phase) in Ungarn stehen für Versuche, ausgehend von spezifischen Erfahrungen marxsche Ansätze weiter zu entwickeln. Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie Marxismus auch im Realsozialismus als Gesellschaftskritik handhabten.  Dieses Herangehen kollidierte mit der entstandenen Art der Verflechtung von politischen Interessen, persönlichen Ambitionen von Teilen der Führungsschicht, Ideologie und marxistischer Wissenschaft.  Das führte dazu, dass auf wesentliche gesellschaftliche Fragen in der Zeit von 1945 bis 1989 keine Antworten gefunden oder die gefundenen Antworten ignoriert wurden. Dies betrifft vor allem:

  • Die Stellung der Werktätigen – der ArbeiterInnen und BäuerInnen – als Subjekte der Gesellschaftsveränderung
  • Das Problem der Innovationsfähigkeit und Triebkräfte einer nichtkapitalistischen Wirtschaft jenseits der Marktkonkurrenz
  • Die nationale Frage (man denke daran, dass der Krieg zwischen den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan einer der Auslöser des Zerfalls der UdSSR war)
  • Die Spezifik einer eigenen nach-bürgerlichen Lebensweise
  • Das Verhältnis zu Traditionen, Religion und Kirche

Allerdings gilt für alle diese Länder auch, dass die marxsche Tradition immer nur eine unter vielen Denkrichtungen war. Die Dominanz der marxistischen bzw. marxistisch-leninistischen Richtung war nur eine scheinbare.  Neben den „westorientierten“ antimarxistischen und „linken“ Oppositionen waren immer religiöse und andere auf nationalen Traditionen beruhende nichtmarxistische Richtungen wirksam, wenn oft auch nicht sichtbar.

Ergebnis: Verlust der Basis und Spaltungen

Das hier nur kurz skizzierte  Zusammenspiel verschiedener Faktoren marginalisierte nach 1989 Gruppierungen, die eine nicht-kapitalistische oder selbst nur konsequent sozialstaatliche Gesellschaftsperspektive vertraten. Die Masse der ArbeiterInnen und BäuerInnen hatte „verlernt“, als eigenständige Subjekte in politische Auseinandersetzungen einzugreifen. So fehlte einer sich auf Marx berufenden Opposition einfach die gesellschaftliche Basis. Außer in akademischen Nischen konnten MarxistInnen nur in (meist kleineren) Gewerkschaften und sozialen Bewegungen überleben. Zeitschriftenprojekte, wie etwa kontradikce in Tschechien, Alternativy in Russland, Praktyka Teoretyczna in Polen, Konferenzen mit Bezug auf das marxsche oder generell linke Erbe, Publikationen zu derartigen Themen oder „einsame Stars“ wie Slavoj Zizek aus Slovenien zeigen, dass einerseits die Tradition noch da, aber andererseits auch schwach und ohne gesellschaftliche Gestaltungsfähigkeit ist.

Im Ergebnis zerfiel die marxistische Strömung, die keinesfalls die Masse der ehemaligen Parteimitglieder vereinigte, in eine Vielzahl von sich z.T. auch gegenseitig bekriegenden Parteien. Sie sind oft von geringerer Bedeutung als etwa traditionelle trotzkistische oder anarchistische Strukturen. Von diesem Zerfall haben sie aber kaum profitiert. Dieses in sich wiederum sehr differenzierte Spektrum bezieht sich, wenn überhaupt, in unterschiedlicher Weise auf Marx – vor allem durch das Prisma der Auffassungen von Trotzki, Stalin oder Hoxa und ist u.a. in verschiedenen Spaltungsprodukten der von Trotzki begründeten 4. Internationale mit Gruppen in anderen Weltregionen vernetzt. Wie auch in Westeuropa spielen diese Gruppen in betrieblichen oder gewerkschaftlichen Kämpfen mitunter eine wichtige Rolle.

Mit Ausnahme der Parteien in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in der CSSR verwandelten sich die kommunistischen Parteien (bzw. deren Apparate) allerdings mehrheitlich in mehr oder weniger sozialdemokratische oder nannten sich wenigstens so. Oft übernahmen sie dann auch schnell die Regierungen, waren an der Durchsetzung von Schocktherapien beteiligt und vollzogen letztlich den gleichen Weg wie die westeuropäische Sozialdemokratie – hin zu einem neoliberalen Gesellschaftsmodell. Damit musste, und hier sind nun wieder die frühere Sowjetunion und die CSSR einzuschließen, auch jede potenzielle Legitimation von Widerstand – und die marxsche Tradition ist eine solche Legitimation - ausgetrocknet werden. Die Abkehr von marxschen Traditionen stellte für die meisten Exponenten dieses Kurses einen biografischen Bruch dar, der entsprechend radikal zelebriert werden musste, sollte er glaubwürdig sein. So ist das Verhältnis zu Marx in diesen Parteien und Ländern generell verkrampfter und irrationaler, als dies in Westeuropa der Fall war und ist. Die (in einigen Fällen zeitweiligen) Verbote kommunistischer Symbole in einigen dieser Länder sind ein äußeres Zeichen dessen.

In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bildeten sich nach dem Ende der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) aus deren Trümmern vor allem nationalistische und konsequent  neoliberal orientierte Parteien. Sozialdemokratische Richtungen blieben vergleichsweise schwach. In Russland wurde die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) immerhin zu einer starken parlamentarischen Oppositionskraft. Sie vereinigt von Marxisten bis Stalinisten ein breites Spektrum, ohne allerdings eine wirksame gesellschaftliche Alternative präsentieren zu können. Ähnlich entwickelten sich die sich kommunistisch bezeichnenden Parteien in der Ukraine und in Belorussland.
Die Parteien (bzw. deren Apparate) in den ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken wurden schnell zu Netzwerken bei der Etablierung mehr oder weniger früh-demokratischer politischer Systeme, teilweise auch oligarchischen Charakters. In Tschechien (CSR) blieb der Bruch innerhalb der Kommunistischen Partei aus , da die Sozialdemokratische Partei im Exil weiterbestanden hatte und dort sofort wieder aktiv wurde. Die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens ist heute eine entscheidende oppositionelle Kraft in Tschechien.

Perspektiven: Offen

Erst mit dem Wachsen der globalisierungskritischen Bewegung im internationalen Maßstab, sichtbar z.B. im Sozialforumsprozess, und der Beschleunigung der Integrationsprozesse im Rahmen der EU wird diese Strömung in Osteuropa generell wieder sichtbarer. Einerseits betrifft das Richtungen, wie den russischen kritischen Marxismus (vertreten von A. Buzgalin und der Zeitschrift Alternativy), andererseits neue Parteien, wie die im Wahlbündnis Vereinigte Linke (ZL) kooperierenden Parteien in Slowenien. Die Bezugspunkte der neuen Generation, die ihre universitäre Ausbildung meist wenigstens teilweise in Westeuropa oder den USA erhalten hat, liegen vor allem in der angelsächsischen Marx-Interpretation. Gerade in der Balkan-Region ist eine Belebung der marxistischen Debatten zu beobachten, die sich dort auch enger mit politischem Handeln verbinden.

Von einer tatsächlichen Konsolidierung dieser Strömung kann allerdings nicht die Rede sein. Auch wenn die Europäische Linkspartei mit ihren Sommerschulen, das Netzwerk „transform!“ oder das Projekt Historical Materialism  dem Diskurs zwischen den verschiedenen in diesem Kontext existierenden Richtungen Raum geben, bleiben die Verbindungen untereinander wie auch die Rolle in den einzelnen Ländern bisher schwach und ohne gesellschaftlichen Einfluss.