In der Rezeption des Jahres 1917 versucht man oft, sich vor allem an Gewissheiten zu halten. Manchmal sind es aber die Unsicherheiten und das Schwanken von Protagonisten der Ereignisse, die mehr über den Charakter von Prozessen aussagen als vermeintliche ewige Weisheiten. Es stellen sich bei einer solchen Betrachtung vor allem zwei Fragen:
Erstens, warum spielen der Erfahrungen der Bolschewiki, die vor Lenins Ankunft in den Bewegungen wirkten, die also zu denen gehörten, die im Land selber über die Jahre, in denen ein großer Teil der Führung im Exil war, das Überleben dieser Partei überhaupt sicherte, in den Diskussionen kaum eine Rolle? Gleiches gilt für den Umstand, dass ja die Sowjets, an die Lenin im ersten Halbjahr 1917 größte Erwartungen knüpfte, ja eben in der Mehrheit eben nicht von den Bolschewiki gegründet wurden bzw. werden konnten. Sie stehen erst einmal auch in der Tradition der „reformistischen“ Mitbestimmungsorgane, die z.B. auch zum Inganghalten der Kriegsproduktion geschaffen wurden. Die Ankunft Lenins wird als „Erweckungserlebnis“ beschrieben (und auch bis heute in beträchtlichen Teilen der linken Bewegung so rezipiert); was aber verschwand mit diesem Umbruch in der bolschewistischen Bewegung?
Zweitens, warum waren kluge und der Idee einer humanen Gesellschaft verpflichtete Menschen wie Tschcheidse, Tschernow u.a. nicht in der Lage, die Veränderungen der Stimmung der Massen zu verstehen und darauf gestützt die Machtfrage zu Gunsten der Sowjets zu entscheiden? Ihnen persönliche Beschränktheit vorzuwerfen trifft das Problem ganz sicher nicht. Suchanov bescheinigt den führenden Köpfen der reformistischen Fraktion der russischen Linken wiederholt Blindheit und dergl., ohne ihrem Handeln niedrige Beweggründe zuzuschreiben. Wo liegt also das Problem?
Natürlich kann man es sich einfach machen und wie Lenin vom Verrat der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki sprechen. Oder man folgt Trotzki:
„Als die durch die Umwälzung erwachten Massen ihr Vertrauen noch den Sozialrevolutionären und Menschewiki entgegenbrachten, waren beide Parteien nicht müde, die hohe Aufgeklärtheit des Volkes zu rühmen. Als die gleichen Massen, nachdem sie die Schule der Ereignisse passiert hatten, sich schroff in die Richtung der Bolschewiki wandten, schoben die Versöhnler die Schuld an ihrem Zusammenbruch auf die Finsternis des Volkes.“ (Trotzki 2010, 251)
All das sagt überhaupt nichts darüber, warum führende Menschewiki oder Sozialisten-Revolutionäre und mit ihnen viele anderen politischen AktivistInnen zu ihren Einschätzungen kamen. Ja, der Oktober 1917 ist der Monat der endgültigen Wendung der Massen zu den Bolschewiki. Trotzdem sind beide Lesarten unbefriedigend, wie es auch auf der anderen Seiten die Vorwürfe gegenüber den Bolschewiki, sie hätten mit ihrer Propaganda die Massen verführt, sind.
Drei Vorannahmen, ihre Stärken, ihre Schwächen
Es standen sich verschiedene Vorannahmen, durch deren „Linse“ die Ereignisse betrachtet wurden, gegenüber, die zwei marxistische und eine volkstümlerische Quelle haben und darüber hinaus auch ein unterschiedliches Verständnis von Sozialismus einschlossen:
Die erste Vorannahme war, dass die Situation in Russland aufgrund der Entwicklung der Ökonomie und der Arbeiterklasse der unmittelbare Aufbau einer kommunistischen Ordnung nicht möglich sei, es werde eine bürgerliche Revolution gebraucht und erst nach deren Vollendung und einer entwickelten bürgerlichen Demokratie sei über eine andere Gesellschaft zu sprechen – dies war die Position der „gemäßigten Revolutionäre“, die lange Zeit die Sowjets dominierten. Die Vorstellung, dass die Verhältnisse in Russland nicht „reif“ seien, entsprach dem Marx-Verständnis der II. Internationale und wurde dann nach dem November 1917 vor allem von Karl Kautsky gegen die Oktoberrevolution ins Feld geführt. Die Auffassung des Flügels der Menschewiki, der dieser Richtung zuneigte, beschreibt R.R. Abramovitch, schon an der Revolution 1905-1907 beteiligt und im Jahr 1917 Mitglied des Petrograder Sowjets für die Menschewiki, dahingehend, dass sie den Bolschewismus für eine „anormale, utopisch-terroristische Verirrung“ hielten, die wegen der Zurückgebliebenheit Russlands zum Scheitern verurteilt war. (vgl. Abramovitch, Raphael R. 1962, xiv)
Die zweite Vorannahme ging davon aus, dass eine bürgerliche Revolution nötig sei, aber man eben mit der Sowjetmacht über die durch die Provisorische Regierung repräsentierte Form der bürgerlichen Republik hinausgehen müßte. Nötig sei zudem eine Revolution im Westen, um dann ausgehend von einer durch die Sowjets geprägten bürgerlichen Demokratie zu einer sozialistischen Revolution überzugehen, indem das westeuropäische Proletariat das schwache russische Proletariat bei der Heranziehung der bäuerlichen Massen zu einer sozialistischen Entwicklung stützt – das war der Kern der Aprilthesen Lenins und der von den Bolschewiki bis in den Sommer vertretenen Losung „Alle Macht den Räten“. Die Aprilthesen waren nicht der Plan des sozialistischen Aufbaus sondern der Plan des Hinaustreibens der bürgerlichen Revolution über ihre eigenen Begrenztheiten mit Hilfe des internationalen Proletariats. Die leninsche Position war auch unter den Bolschewiki nicht unumstritten, viele teilten die Unsicherheiten bezüglich der Perspektiven einer Machtübernahme durch die Sowjets durchaus.
Die dritte Vorannahme, die auch noch nach der Oktoberrevolution massenhafte Zustimmung fand, war die von den linken Sozialisten-Revolutionären vertretene Auffassung, dass nicht das Proletariat, sondern die werktätigen Massen, letztlich die Bauernmassen als solche die primären Akteure der Umgestaltung werden würden. Es ginge also nicht um eine proletarische Revolution und nicht um eine Diktatur des Proletariats, sondern um eine Revolution der „Werktätigen“ und deren Diktatur. Sie geht auf Traditionen der Narodniki (Volkstümler) und Tschernyschewskis zurück. Das hier vertretene Verständnis von Sozialismus war weniger zentralistisch und überschnitt sich in einigen Punkten mit anarchistischen Konzepten. Auf jeden Fall nahm es die Probleme des Dorfes stärker in den Blick, als dies die menschewistischen und bolschewistischen Konzepte taten.
Alle drei Vorannahmen sind nachvollziehbar, haben ihre starken und schwachen Punkte. Natürlich war das Proletariat eine verschwindende Minderheit, natürlich fehlte eine wirtschaftliche Basis für eine kommunistische Gesellschaft, wie sie sich Marx vorgestellt hatte, natürlich hätte ein Separatfrieden mit Deutschland dessen Stärkung an der Westfront bedeutet – aber genauso richtig war, dass die Massen eben nicht mehr so leben wollten wie bisher und dass dem russischen Bürgertum ein „humaner“ Kapitalismus schlicht weg fremd war. Trotzki unterschlägt in dem obigen Zitat allerdings, dass sich die Massen zwar den Bolschewiki zuwandten, aber damit noch lange nicht bolschewistisch wurden. Wie und mit welchen Perspektiven die Bolschewiki die Forderungen nach Frieden, Land und Sowjetmacht begründeten, war den allermeisten Menschen völlig egal.
Der Erfolg des Leninschen Herangehens am 7. November 1917 bedeutet aber keinesfalls, dass die Bedenken, Vorbehalte und das Zögern seiner Kontrahenten schlichtweg unbegründet gewesen wären. Lenins Handeln wird bis heute so interpretiert, als ob Revolutionen eben immer „so“ ablaufen würden, dass man immer „wie 1917 handeln“ müsse – und das wird dann noch als marxistisch ausgegeben. Natürlich lösen Revolutionen immer Widersprüche, aber sie setzen auch neue. Die wichtige Frage ist also, welche Widersprüche neu entstehen, und darauf verweisen die Kontrahenten Lenins.
Tschernow schreibt am 8. Oktober 1917:
„Ich möchte jedoch nicht die Suppe auslöffeln, die Herr Trotzki einbrockt. Und das nicht nur, weil der Mangel an Leuten und die Inkompetenz ein komisches und erbärmliches Bild abgeben werden, wenn sie an der Macht sind, denn sie ahnen nicht einmal, mit welchen mitunter beinahe unüberwindlichen Schwierigkeiten sie am Staatsruder konfrontiert sein werden und was für eine gewaltige Last unter den heutigen russischen Bedingungen die Macht darstellt … Das Schlimme ist …, daß es ihnen weniger als irgendjemandem gelingen wird, die Metamorphose von der verantwortungslosen Agitation zur verantwortungsvollen Zügelung des Elements zu vollziehen, wie sehr sie sich auch dabei um Erfolg bemühen werden. Ihre Katastrophe wird unvermeidlich sein…“ (Tschernow, V.M. 1998, 360f.)
Wir sehen hier jetzt bewusst von den Schwächen der Argumentation Tschernows ab (etwa wenn er von „verantwortungsloser Agitation“ spricht). Tatsächlich ist eben die Frage, wie man mit dem Fakt umgehen sollte, dass die Erwartungen der Handelnden in jeder Revolution die Möglichkeiten des Augenblicks überschreiten müssen (sonst gibt es keine Revolution), zentral für deren Schicksal. Viel hängt davon ab, inwieweit die Handelnden diese Begrenztheiten verstehen bzw. verstehen können. Tschernow befürchtete, dass dieses Verständnis eben nicht vorhanden sein könnte – hier hatte er weitgehend Recht – und nimmt das zur Begründung des Nicht-Handelns – und hier öffnet er der Konterrevolution den Raum. Er befindet sich in einem Dilemma, dass er nicht wahrnimmt. Die offensichtlich von den „gemäßigten Revolutionären“ gepflegte Vorstellung, man dürfe erst handeln, wenn die Ergebnisse zu 100 Prozent berechenbar seien und ganz bestimmt eintreten würden, war und ist illusionär. Das macht den entscheidenden Unterschied zu den Bolschewiki unter Lenin aus. Revolutionen schaffen erst einmal nur Möglichkeiten und da sich die Akteure in ihnen beständig verändern ist eine Sicherheit über den Ausgang der Dinge unmöglich. Die Bolschewiki wussten um diese Unberechenbarkeit, versuchten ihre Organisation darauf einzustellen und handelten.
In seiner Kritik des Kronstädter Aufstandes übernimmt Trotzki dann übrigens die von ihm an obiger Stelle verworfene These von der „Finsternis der Massen“ wie auch den von Tschernow gemachten Vorbehalt gegen „verantwortungslose Agitation“. Lenin wird später das Problem dahingehend fassen, dass es darum gehe, den „Kommunismus mit nichtkommunistischen Händen aufzubauen“. Bei der Konzipierung der Neuen Ökonomischen Politik wird er dann auch auf Konzepte zurückgehen, die von den SozialistInnen-RevolutionärInnen 1917/1918 vertreten wurden. Namentlich Lenin wird all die Unsicherheiten, die die Menschewiki in die Handlungsunfähigkeit trieben, selbst erleben – mit dem Unterschied, dass er immer wieder auf das Handeln orientiert und den im Moment unentwirrbaren Knoten zerschlägt, auch um den Preis der Brutalisierung der Gesellschaft, was auf lange Sicht die sowjetische Gesellschaft zerstören sollte.
Den Gegenpol zu Tschernow markiert etwa zur gleichen Zeit die Sozialistin-Revolutionärin Maria Spiridonowa:
„Die Unterschiede in den Programmen der Sozialisten-Revolutionäre und der Sozialdemokratie [hier meint sie die Menschewiki], die die Minimalforderungen betreffen, hängen mit überaus wesentlichen Unterschieden in den allgemeinen Vorstellungen über die Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen, was wiederum mit noch wesentlicheren Unterschieden in den Auffassungen über die philosophischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zusammenhängt, die der wissenschaftlichen Begründung des Sozialismus zugrunde gelegt werden… Die „Sozialisten“, deren Köpfe hoffnungslos mit marxistischen Dogmenvollgestopft sind, … versperren der sich entfaltenden Volksbewegung den Weg, die schon längst den Rahmen, die Zäune und die Mauern der bürgerlichen Revolution überwunden hat.“ (Spiridonowa, Maria Alexandrowna 2017, 228) Und sie setzt später fort: „Die Losung „Rettung der Revolution und des Lebens des Landes“ taugt zur Sammlung aller wahrhaft lebendigen Kräfte, unter dem roten Banner der Arbeit sammeln sich nicht zufällig zusammengetroffene Haufen, sondern die bewußte Klassenpartei, die Partei der Werktätigen.“ (ebd., 232)
Das nach den wenigen Monaten der Revolution von einer „bewußten Klassenpartei“ gesprochen werden könnte, ist eher Wunsch als Realität und reflektiert die Hinwendung der Massen, vor allem der Bauern, zu radikalen Maßnahmen der Bodenreform bzw. von Arbeitern zur Arbeiterkontrolle als bewußtes Klassenverhalten; es ist Klassenverhalten aber die gesellschaftliche Dimension, die dem Bewußtwerden von naheliegenden Interessen innewohnen muss, konnte noch gar nicht entwickelt sein.
Es ist nicht analytisches Unvermögen, „Verrat“, oder „Wunschdenken“, womit wir es hier zu tun haben. Die sich scheinbar völlig ausschließenden Bewertungen sind Ausdruck eines Dilemmas, in dem sich die russischen RevolutionärInnen bewegen mußten. Dies zeigte sich auch in dem zunehmenden Differenzierungsprozess in den verschiedenen linken Parteien. (vgl. näher Saweljew, Pjotr 2017, 67ff.) (hier auch Hedeler ausführlicher zum Parteiensystem)
In einem Aufsatz von Rosa Luxemburg im Spartakusbrief Nr. 6 vom August 1917 wird dieses Dilemma an Hand der Frage Krieg-Frieden sehr anschaulich beschrieben:
„Nach einigen heftigen Kämpfen hat es die russische Arbeitermasse siegreich durchgesetzt, daß von der Provisorischen Regierung offiziell als Formel der Kriegsziele anerkannt wurde: keine Annexionen, keine Entschädigungen, ein Friede auf Grund der Selbstbestimmung der Nationen…Aber ein allgemeiner Friede kann von Russland allein nicht herbeigeführt werden… Die offiziell in Russland anerkannte Friedensformel … nimmt dem Krieg scheinbar … den Charakter eines imperialistischen Annexionskrieges und reduziert ihn auf reine Landesverteidigung. In diesem Falle ist sie es auch in dem einzig wahren Sinne des Wortes, denn sie ist die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution unter der souveränen Leitung der revolutionären Massen. Allein politische Verteidigung läßt sich militärisch von der Offensive nicht trennen. Wer überhaupt Krieg führt, muß ihn, um welche Ziele der Krieg gehen mag, militärisch möglichst auf die Offensive stellen… Jedoch alle aktive Kriegführung und jede militärische Offensive von russischer Seite dient jetzt kraft der objektiven Sachlage und ihrer Logik nicht der Verteidigung der russischen Revolution, sondern den Interessen des Entente-Imperialismus… Was aber nun, wenn Rußland sich auf keine Offensive einläßt und sich militärisch … auch eine passive abwartende Haltung beschränkt … Mit dieser Passivität, die an sich eine Halbheit, ein Ausweichen dem Kriege, nicht dessen Beendigung bedeutet, leistete Rußland unschätzbare Dienste dem deutschen Imperialismus, indem es ihm gestattet, seine Hauptstreitkräfte nur gegen die westliche Front zu verwenden… Das ist die wirkliche Sachlage der russischen Republik – eine tragische Situation, an der die schöne Friedensformel, die wie ein erlösendes Zauberwort von allen begrüßt wurde, nicht das geringste ändert.“ (Luxemburg, Rosa 1974, 275–277)
Nicht das Ereignis, sondern der Weg zum Ereignis ist wichtig
Nicht die Oktoberrevolution, sondern die Konstellation an ihrem Vorabend ist in der Tat das eigentlich Interessante, Wichtige und Aktuelle. Es ist das Privileg und die Verpflichtung der Nachgeborenen, den in den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Strömungen angelegten unterschiedlichen Möglichkeiten nachzuspüren, politische Kontrahenten und ihre Argumente ernst zu nehmen, die im momentan erfolgreichen Handeln der Bolschewiki angelegten Widersprüche und deren Wurzeln aufzudecken und Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen. Entscheidend sind die Wege, die in einer Revolution münden. Das Dilemma der russischen Revolution 1917 erklärt sich aus den davor liegenden Jahren und ist bestimmt von einer orthodoxen, verknöcherten Marx-Rezeption sowie einem darauf beruhenden mechanistischen Geschichtsverständnis (das „Reife“-Problem), von der Unterstützung des Krieges durch die Mehrheits-Sozialdemokratie in Westeuropa, parteiorganisatorisch durch die Entmündigung der Mitgliedschaft und die Dominanz der Apparate und Parlamentsfraktionen in den großen Sozialdemokratischen Parteien und den Gewerkschaften. Das führte in eine Unfähigkeit zu Solidarität mit der russischen Revolution, die wie jede andere sozialistische Revolution nach der Entfaltung des Kapitalismus als Weltwirtschaft nur noch eine globale Revolution sein konnte.
In Russland konnten sich zwar einige Formen von gewerkschaftlicher Arbeit entwickeln, von einem in Ansätzen demokratischen System im Vergleich mit den westeuropäischen Mächten war das Land aber weit entfernt. Trotzdem gab es Erfahrungen gewerkschaftlichen Kampfes und linker Bewegungsarbeit. In Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ spielten diese Ansätze allerdings keine Rolle. Er machte vielmehr in den „Arbeiteraristokraten“ einen neuen Feind aus und orientierte darauf, immer „tiefer zu graben“, die in den Mittelpunkt zu stellen, die „wirklich unterdrückt“ seien. Das waren aber nicht die, die im Februar die Initiative ergriffen hatten. Die Dynamik des Februar erwuchs aus den Reihen der organisierten und relativ qualifizierten ArbeiterInnenschaft, die dann die Bauern gewannen. Zu denen gehörten auch die Bolschewiki, die in den Bewegungen dieser Tage wirkten. Deren Erfahrungen waren nach der Rückkehr Lenins und anderer Emigranten offensichtlich nichts mehr wert, die Erfahrungen von Kooperation und Solidarität an der Basis wurden der Parteiräson geopfert.
Warum es trotzdem eine „Große Revolution“ war
Die oft gestellte Frage, ob man sich denn heute genauso verhalten würde, wie die Bolschewiki, ob man ihr Verhalten für richtig und gut hält, führt einfach in die Irre, zumal sich daran oft die rückhaltlose Rechtfertigung all dessen anschließt, was danach passierte. Wie dem Offizier der Zarenarmee oder dem russischen Unternehmer das Leben eines Bauernsoldaten oder Arbeiters wenig wert war, war das Leben eines ehemaligen Offiziers oder Unternehmers dem nun an der Macht beteiligten Arbeiter oder Bauern vor dem Hintergrund der erlebten brutalen Unterdrückung ebenso wenig wert. Das hat nichts mit Bolschewismus oder gar Kommunismus zu tun, es ist Notwehr oder Rache. Die Bolschewiki hatten diesem verständlichen Rachesyndrom wenig entgegenzusetzen, nutzten es und institutionalisierten es vielmehr im Roten Terror. Es aber war nicht allein die Verrohung des Krieges, die den Terror akzeptabel machte, dahinter standen auch in starkem Maße die auf Lenin zurückgehenden Konzepte der Erringung der Macht durch einen langandauernden Bürgerkrieg und des „Arbeiteraristokraten“, bei denen er auch bis zum Ende seines Lebens bleibt. Seine Hoffnung, durch eine Kulturrevolution das Destruktive dieses Vorgehens bändigen können, erwies sich weitgehend als Illusion. In vielen Punkten irrte Lenin, und nicht alle seine Irrtümer korrigierte er selbst. Nicht hier liegt also die Größe.
Die Größe der Revolution 1917 zeigt sich genau darin, dass sie das ganze Spektrum der Widersprüche revolutionärer, allgemein-emanzipatorischer Revolutionen sichtbar machte. Vielen Linken, die in diesen Tagen die Oktoberrevolution feiern, dürfte das zu wenig sein, für viele ist die Größe des Triumphes wichtig, weil daraus vermeintlich Legitimation des eigenen Handelns gewonnen werden kann. Damit wird jedoch das Jubiläum zu einer leeren Hülle. Die Revolution zeigte die Potenziale und Grenzen des Handelns der Massen, des Handelns von Parteien und des Handelns ihrer Führungspersönlichkeiten, wie eben Lenin und Trotzki. Rosa Luxemburg hatte völlig recht, als sie in ihrer Kritik der Russischen Revolution schrieb, dass in Russland das Problem gestellt, jedoch nicht gelöst werden konnte. Aber gerade auf kulturellem Gebiet, im sozialen Bereich, in der Kunst und auch in der Wirtschaft bewahrte die Oktoberrevolution Freiräume und erweiterte sie, wenn auch zu einem großen Teil nicht auf Dauer. Das macht das Studium und die Kritik des Ganzen der Revolutionen 1917 so wichtig. Das Erheben des Ereignisses über den Boden der Widersprüche, aus denen es erwächst, führt in die Situation, die dem Titanen Antäus das Leben kostete – im Kampf spendete ihm immer dann, wenn er fiel und den Boden berührte, seine Mutter Gaia, die Erde, neues Leben. Herkules besiegte ihn, indem er ihn in der Luft hielt, die Mutter ihm kein neues Leben mehr geben konnte... Die Widersprüche der Revolution sind der Boden, aus denen neue Kämpfe, neue Siege und neue Niederlagen wachsen. Die Entschlusskraft Lenins und die Unentschiedenheit seiner KontrahentInnen müssen dabei gleichermaßen Ernst genommen werden, sonst lässt man sich von Glanz und/oder Tragik der Details blenden und verliert den Kontakt zum Boden.
Quellen und zum Weiterlesen
Abramovitch, Raphael R. (1962). The Soviet Revolution 1917-1939, New York: Universities Press
Luxemburg, Rosa (1974). Brennende Zeitfragen, in: Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 4 August 1914 bis Januar 1919, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 275–290, auch hier abrufbar
Saweljew, Pjotr (2017). Die russische Sozialdemokratie im Jahre 1917, in: Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Die russische Linke zwischen März und November 1917, Berlin: Karl Dietz Verlag, 51–74
Spiridonowa, Maria Alexandrowna (2017). Über die Aufgaben der Revolution, in: Hedeler, Wladislaw (Hrsg.): Die russische Linke zwischen März und November 1917, Berlin: Karl Dietz Verlag, 226–233
Trotzki, Leo (2010). Geschichte der Russischen Revolution: Oktoberrevolution. Bd. 2, Mehring-Verlag, auch hier abrufbar
Tschernow, V.M. (1998). V.M. Tschernow über Koalitionen mit den Kadetten, bolschewistische Machtvorstellungen und über die Perspektiven der 3. Koalitionsregierung (Aus „Seiten eines politischen Tagebuchs“), in: Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 358–361