Nation und Revolution

Sowjetsche Briefmarke aus den 1920er Jahren aus Anlaß des Revolutionsjubiläums Public Domain

Die nationale Frage war seit der Februarrevolution von zentraler Bedeutung für die Gestaltung des nachzaristischen Russland. In Russland lebten etwa 200 Nationalitäten völlig unterschiedlichen Charakters mit völlig unterschiedlichen Traditionen, Entwicklungswegen und sozialen Strukturen.

Russisch-Polen verfügte über eine entwickelte Industrie, während in der Ukraine oder in Belorussland starke Bauernwirtschaften bestanden, die Khanate Mittelasiens oder die Nomadenvölker Sibiriens beruhten wieder auf ganz anderen Grundlagen. Die Wanderung, vor allem von Russen in die nichtrussischen Gebiete, führte zu teilweise großen russischen Gemeinden bzw. Kolonialisationen. Das bedeutete auch, dass russische Bauern Ackerland und Weideflächen der angestammten Bevölkerung besetzten und diese in ungünstigere Gebiete abdrängten. Die Arbeiterschaft, wenigstens der qualifiziertere Teil, und die Verwaltungen waren russisch geprägt. Das barg hinreichenden Sprengstoff in sich, da soziale und ethnische, damit auch kulturelle und religiöse Konflikte sofort auch politische Dimensionen annehmen mussten – und umgekehrt. Im europäischen Teil Russlands, vor allem in der Ukraine, spielten die Schwarzhunderter eine wichtige Rolle, die als Massenbewegung Monarchismus, extremen Konservatismus, fanatische Religiösität, Antisemitismus, Ablehnung von Demokratie und jeglichem sozialdemokratischem Denken vereinte. Juden, Polen, Liberale und Sozialdemokraten waren ihre zentralen Feindbilder.

Schon 1916, ein Jahr vor der Februarrevolution, entluden sich diese Spannungen in Armenien in einem Aufstand. Die Lösung der nationalen Frage stand somit mit an der Spitze der Aufgaben der Sowjets und der Provisorischen Regierung.

Unerfüllte Versprechen

In der Erklärung der Provisorischen Regierung vom 16. März 1917 war „die Abschaffung aller benachteiligenden Unterschiede infolge der Zugehörigkeit zu bestimmten … Nationalitäten“ als Prinzip ihrer Tätigkeit verkündet worden. (Lwow 1964a) Wie auch in der Bodenfrage verschleppte die Provisorische Regierung allerdings die Lösung der Nationalen Frage und setzte trotz der Erklärungen die Politik des alten Regimes teilweise und in neuen Formen fort. (vgl. Trotzki 2010, 331ff.)

Im Verlaufe der Revolution waren es vor allem Finnland und die Ukraine, die mit ihrem Streben nach eigener Staatlichkeit den Verlauf der Dinge beeinflussten. Das vom Deutschen Reich besetzt Polen als der entwickeltere Teil des Russischen Reiches hatte von den Mittelmächten am 5. November 1916 die Zusage erhalten, einen eigenen Staat bilden zu können. Es schied damit aus den weiteren Auseinandersetzungen in dieser Frage aus. Das unabhängige Polen wurde von der Provisorischen Regierung am 1. April 1917 anerkannt. (Lwow 1964b) In den verschiedenen Regionen Russlands bildeten sich eine Vielzahl von Vertretungen, in denen nationale Interessen den Mantel für die Machtansprüche der örtlichen Eliten gegenüber der Provisorischen Regierung bildeten: Die Ukrainische Zentralrada, die Belorussische Rada, Nationalräte im Baltikum, in Georgien, Armenien und Aserbaidschan, verschiedene Islamische Räte usw. (Makarova 1982, 790) Sie verstanden sich, ähnlich wie in zunehmendem Maße die Provisorische Regierung und dann die Mehrheit der Konstituierenden Versammlung, mehr oder weniger offen als Gegenpol zur Sowjetbewegung. Vor dem Hintergrund der Verflechtung der nationalen Frage mit sozialökonomischen Widersprüchen konnten sie, wie auch die Provisorische Regierung, Zustimmung in verschiedenen Schichten der Bevölkerung finden.

Bestimmend war in den meisten der nationalen bzw. nationalistischen Bewegungen nicht eine von Russland völlig gelöste Staatlichkeit, sondern Selbständigkeit im Rahmen einer Föderation.

Während diese Position von den meisten anderen Parteien akzeptiert war, waren das monarchistische und das den Kadetten nahestehende Spektrum für einen Zentralstaat. Die Auseinandersetzungen in der Provisorischen Regierung um das zukünftige Verhältnis zur Ukraine war Anlass für den damaligen Ministerpräsidenten Lwow, Mitte Juli 1917 zurückzutreten.

Die in der Februarrevolution entstandenen Machtzentren, die Provisorische Regierung und das Exekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, wollten die Entscheidung über die Zukunft der nationalen Beziehungen in Russland der Konstituierenden Versammlung überlassen. Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung traten nationale Gruppen mit eigenen Listen an oder kandidierten, wie etwa bei den Bolschewiki, auf den Listen gesamtrussischer Parteien.

Die nationalen Gruppierungen konnten hier nur am Rande in Erscheinung treten. Der „rechte“ Flügel der Versammlung, also die Gruppierungen, die die Beteiligung der Sowjets und der Bolschewiki an der Macht ablehnten, hofften, dass die bewaffneten nationalen Kräfte gegen die Sowjetmacht aktiviert werden könnten. Auch wenn nationalistische Kräfte im Bürgerkrieg gegen die Sowjetmacht kämpften (vgl. Makarova 1982), blieb die Resonanz zu diesem Zeitpunkt (also in der zweiten Hälfte des Januar 1918) gering. Das Komitee zur Verteidigung der Konstituierenden Versammlung musste zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit der Nationalitäten kein allzu großes Vertrauen in die Konstituierende Versammlung hatte. (vgl. Sokolov 1924, 37)

Die Sache mit dem Selbstbestimmungsrecht

Mit der Deklaration der Rechte der Völker Russlands (Schützler/Striegnitz 1987), einem der ersten Dekrete der Sowjetmacht, hatten sich die Bolschewiki bereits mehr als zwei Monate vor der Sitzung der Konstituierenden Versammlung eindeutig positioniert. Das Selbstbestimmungsrecht sollte das Recht auf Trennung von Russland und einen eigenen Staat einschließen. Am 14. November 1917 erklärte sich die Ukraine für im Rahmen Russlands als „Ukrainische Volksrepublik“ unabhängig, am 31. Dezember erhielt Finnland seine Selbständigkeit.

Die Position der Bolschewiki in der nationalen Frage war allerdings umstritten, gerade in der internationalen Sozialdemokratie. Es standen sich drei Konzepte gegenüber, die von Luxemburg, Lenin und Otto Bauer. (vgl. dazu z.B. Baier 2011; Luxemburg 2012). Otto Bauer vertrat ausgehend von den Erfahrungen Österreich-Ungarns das Konzept, dass nicht die territoriale Autonomie, sondern eine sozial-kulturelle Autonomie der Schlüssel zur Lösung der nationalen Frage wäre. Unabhängig vom Wohnort sollten die verschiedenen Nationalitäten die Möglichkeit haben, ihre spezifischen sozialen, politischen und kulturellen Bedürfnisse zu realisieren.

Lenin und Rosa Luxemburg lagen aus Anlass der „polnischen Frage“ seit 1905 in permanenter Auseinandersetzung um die Wege der Lösung der Nationalen Frage vor allem mit Bezug auf Polen. Dahinter stand aber eine grundsätzliche Frage: welchen Stellenwert sollten Nationen bzw. Nationalitäten in einem sozialistischen Revolutionsprozess haben? Luxemburg vertrat die Auffassung, dass die Lösung der nationalen Frage der Machtfrage, d.h. der Erringung der Macht der Arbeiterklasse, bedingungslos untergeordnet werden müßte. Das Nachgeben gegenüber Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung und eigener Staatlichkeit würde letztlich dem Bürgertum in den einzelnen Gebieten die Möglichkeit geben, unter dem Banner der Selbstbestimmung der Nation die in diesen Gebieten nur kleine Arbeiterklasse in ihrem Kampf für eine sozialistische Ordnung zu schlagen. Lenin war hingegen der Auffassung, dass die Ausplünderung der verschiedenen nichtrussischen Völkerschaften durch den russischen Imperialismus eine solch starke Erfahrung wäre, die die Massen, auch Teile der nichtproletarischen Massen, quasi zu natürlichen Verbündeten der Sowjetmacht machen würden. Letztlich meinten sowohl Lenin wie auch Luxemburg, die nationale auf die Klassenfrage reduzieren zu können, wenn sie es auch auf unterschiedliche Weise taten. (vgl. dazu jüngst Plener 2017; Krausz 2014)

Zudem war der Standpunkt Lenins und die Praxis der Bolschewiki 1917 schlichtweg wenigstens für den gegebenen Moment realistisch: es gab kein Mittel, die Unabhängigkeitsbestrebungen an den Grenzen des russischen Reiches zu bekämpfen – es sei denn, mit militärischen Mitteln. Und die waren 1917/1918 schwach. So war die Proklamation der Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik Russland durch den III. Sowjetkongress (23. bis 31. Januar 1918) in Lenins Augen eine Möglichkeit, zukünftig eine Föderation selbstständiger, gleichberechtigter Sowjetrepubliken aufzubauen. Dies entsprach im Kern dem Ergebnis der letzten Abstimmung der Konstituierenden Versammlung:

Hier wurde als zukünftige Staatsform die „Russische demokratische föderative Republik“ bestimmt, die in einer „untrennbaren Union souveräne Völker und Regionen in durch eine föderative Verfassung gesetzten Grenzen“ vereinigen sollte. (Novickaja 1991, 160)

Sie folgte damit dem Ansatz, der schon vor der Oktoberrevolution in einer entsprechenden Kommission zur Vorbereitung der Tagung fixiert worden war. Der entscheidende Unterschied zu den Positionen des III. Sowjetkongresses lag darin, dass die Sowjets in diesem Konzept keinen Platz hatten.

1917 und 1918 folgten die Dinge aber keinem Masterplan; Sowjets entstanden dort, wo AktivistInnen waren. Ihre Arbeitsweise folgte den von den Teilnehmenden artikulierten und gemeinsam abgestimmten Interessen, auch spezifisch nationalen. Ihr Lebenszyklus folgte inneren und äußeren Kräfteverhältnissen. Versuche in bestimmten Gebieten, etwa in Baku, in der Ukraine oder auch in Belorussland eigene Sowjetrepubliken zu gründen, waren erst einmal nicht erfolgreich. Teile des europäischen Russland (Teile der Ukraine, Belorussland, das Baltikum) waren vom Deutschen Reich und seinen Verbündeten besetzt und im Süden machte die Türkei Ansprüche geltend. Als sich die Sowjetmacht in Russland militärisch konsolidiert hatte, wurde die Frage der nationalen Selbstbestimmung dann mehr oder weniger gewalttätig im Namen der Solidarität der russischen RevolutionärInnen mit den unterdrückten Massen der anderen Nationalitäten gelöst – wenigstens schien es so. Es wurden Sowjetrepubliken und andere nach Nationalitäten organisierte autonome Regionalkörperschaften gebildet, in denen das Recht auf nationale Selbstbestimmung mit dem Prinzip der Macht der Sowjets in Übereinstimmung gebracht schien. Auf Grundlage dieser Entscheidungen konnten zweifelsfrei viele Seiten nationaler Selbstbestimmung entwickelt werden, allerdings entstanden auch neue Widersprüche. Von nicht zu unterschätzender globaler Bedeutung war, dass das nun Staatspolitik gewordene Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts dem ohnehin anhaltenden Kampf der kolonial unterdrückten Völker eine neue Perspektive gab. (vgl. z.B. Sebald 1988, 820) Der Gehalt dieser Erfahrung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie durchaus auch die Kritik des sowjetischen Weges, wie er sich in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen, in den Arbeiten von F. Fanon, den neueren Ansätzen der postcolonial studies usw. zeigt, herausforderte. (zur Wirkung in Lateinamerika bzw. Afrika vgl. Meschkat 2017; Hopfmann 2017)

Zu dem hier interessierenden Zeitpunkt, also kurz nach der Revolution 1917/1918 konnte Lenin freilich diese Dimension neuer Probleme noch nicht überblicken.

In seinem zwiespältigen Nachruf auf Rosa Luxemburg (vgl. Lenin 1962, 194f.) im Jahr 1922 behauptete er, dass sie sich auch in der „polnischen Frage“ und in ihrem Manuskript zur russischen Revolution überhaupt geirrt habe und legte LeserIn nahe, dass er und die Bolschewiki im Recht waren. Das sollte sich als eine seiner dramatischsten Fehleinschätzungen erweisen.

Mißlungener Spagat

Tatsächlich wurden zwar die alten Eliten der betroffenen Völkerschaften unterdrückt, verdrängt und z.T. auch physisch liquidiert, der Nationalismus allerdings nur in den Unter- bzw. Hintergrund gedrängt. Immer wieder kam es in der Geschichte der Sowjetunion zu Vorfällen, die mit dem Ideal des nationalen Selbstbestimmungsrechtes kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. Das mag an der von den Bolschewiki verfolgten Doppelstrategie liegen, die Trotzki folgendermaßen beschrieb:

Einerseits das Recht auf nationale Selbstbestimmung bis hin zur Gründung eigener Staaten gewahrt werden, andererseits verfolgte der Bolschewismus im Rahmen der Partei und der Arbeiterorganisationen “strengsten Zentralismus, bei unversöhnlichem Kampf gegen jede Art nationalistischer Seuche, die fähig wäre, die Arbeiter zueinander in Gegensatz zu bringen oder sie zu trennen.“ (Trotzki 2010, 333)

Diese Doppelstrategie barg natürlich die Möglichkeit der Entstehung scharfer Widersprüche in sich und ging von einem sehr abstrakten Bild des „Arbeiters“ aus. Bereits in der frühen Phase 1918 zeigte sich, dass dieser Spagat zwischen Internationalismus in der Arbeiterbewegung und Nationalem in der Gesellschaftspolitik im Detail dann schwer zu leben ist. Bei den Diskussionen um die Schaffung einer Belorussischen Sowjetrepublik zeigte sich z.B., dass russische und baltische Bolschewiki meinten, aus ihren eigenen Interessenlagen heraus über Belorussen entscheiden zu können. (vgl. Sinjak 2011) Ein anderes Beispiel ist der tatarische Bolschewik Sultan-Galiev, der entscheidenden Anteil daran hatte, dass muslimische Linke sich den Bolschewiki anschlossen; er kritisierte ab Anfang der 1920er Jahre die Art der Industrialisierungspolitik als kolonialistisch und stellte die Fähigkeit der europäischen Arbeiterklasse zu internationalistischem Handeln grundsätzlich in Frage. Die darin zum Ausdruck kommenden Probleme könnte man als zufällige Fehlentscheidungen im Rahmen eines intensiven Suchprozesses abtun, aber 1988 zeigte sich, dass die nationale Frage eben nicht gelöst war – das Verdrängte kehrte in brutalster Form zurück. Michail Gorbačov schreibt zum Umgang mit der Nationalen Frage in der Sowjetunion in seinen „Erinnerungen“:

„Die Leninsche Konzeption der Föderation gründete auf der Möglichkeit einer variantenreichen, „asymmetrischen“ Eingliederung, angefangen bei national geordneten Staaten, die immer eine größere Selbständigkeit behielten, bis hin zur Gebiets- und Bezirksautonomie. In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution gab es in der Sowjetunion über fünftausend nationale Bezirke. Selbst kleine Minderheiten konnten so ihre Sprache, ihre Sitten und Bräuche, ihre Kultur bewahren. Mit Stalin kam es zu einer schroffen Wende. Er vergriff sich zwar nicht an dem von Lenin begründeten föderativen Prinzip des Staatsaufbaus, „interpretierte“ es jedoch auf seine Weise. In dem Maße, wie sich die Zentralgewalt sicherer fühlte, wurden damals den Republiken - den Unions-, wie auch den Autonomen Republiken - Kompetenzen entzogen, und letzten Endes wurde ihre staatliche Selbständigkeit auf eine Art örtliche Selbstverwaltung reduziert. Das einzige, was ihnen blieb, war die alte, prächtige Symbolik… Die sowjetische Erfahrung sollte also kritisch, aber ohne Vorbehalte betrachtet werden. Vielleicht kommen in ihr einige objektive Notwendigkeiten zum Ausdruck, die für unser und möglicherweise auch für das kommende Jahrhundert bezeichnend sind? Die Menschen, die Nationen sehen ein, daß es ohne Integration unmöglich ist, zu Wohlstand zu gelangen und mit der Zeit Schritt zu halten. Doch lehnen sie dabei eine Integration ab, die zur nationalen Nivellierung führt. Die Jahre der Perestroika bestärkten mich in der Überzeugung, daß die nationale und religiöse Mannigfaltigkeit, gerade auch im Fall besonders kleiner Gemeinschaften, ein unersetzlicher Bestandteil unseres Landes ist.“ (Gorbačev 1995, 478)

Ein früherer Berater des damaligen Präsidenten Gorbačev, der an den Verhandlungen zur Gestaltung der nationalen Beziehungen nach 1988 beteiligt war, bezweifelt allerdings, dass der Rückbezug auf Lenin tatsächlich die Probleme hätte lösen können. Er meint, dass dieser Rückbezug eher die Unterschätzung der Komplexität der nationalen Frage und damit die separatistischen Tendenzen befördert habe. (vgl. Stankevich 2016, 31ff.)

Der Zerfall

Am 20. Februar 1988 bat der Sowjet des autonomen Gebietes Nagorni Karabach die Obersten Sowjets von Aserbaidschan und Armenien, das Gebiet in die Hoheit Armeniens zu übergeben. Es kam zu Pogromen von beiden Seiten. Am 15. Juli nahm Armenien das Gebiet auf, Aserbaidschan entschied den Verbleib in seiner Hoheit. Der gewalttätige Konflikt, der zeitweise Formen des Bürgerkrieges annahm, ist bis heute ungelöst. Gleichzeitig begannen im Baltikum, sich nationale Befreiungsbewegungen zu formieren. Anknüpfungspunkte (nicht Ursache!) waren in allen diesen Fällen uralte nationale und nationalistische Ideologien, die Ideologie und Realität der Sowjetmacht nicht beseitigt, sondern im Untergrund konserviert hatten. (vgl. Gorbačev 1995, 475ff.) In einem Punkt hatte Luxemburg Recht – in keinem Fall trugen diese Bewegungen emanzipatorischen Charakter. Vor diesem Hintergrund ist die vernichtende Kritik Trotzkis aus dem Jahr 1932 an den Auffassungen Luxemburgs und Bauers (die im Kern die Haltung zu den Auffassungen Luxemburgs in diesem Punkt in weiten Teilen der kommunistischen Bewegung bestimmte) – freundlich ausgedrückt - schlichtweg von einem starken Wunschdenken bestimmt. Das erst recht, wenn man in Rechnung stellt, dass Trotzki die nationalen Auseinandersetzungen in der Partei und im Sowjetstaat kennen musste.

Die revolutionären Prozesse 1917 eröffneten so die Möglichkeit der Suche nach neuen Wegen der Lösung der Nationalen Frage – einen nachhaltigen Weg brachten sie aber nicht hervor. Wichtigste Lehre dürfte sein, dass gerade auf diesem Gebiet einfache Lösungen unmöglich sind. Weder das Ignorieren des Nationalen noch der Flirt mit nationalistischen Tendenzen oder das gleichzeitige Bedienen nationalistischer Tendenzen nach außen und deren Bekämpfung nach innen (wie Trotzki empfahl) sind gangbare Wege.

Quellen und zum Weiterlesen

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Gorbačev, Michail (1995). Erinnerungen 1. Aufl., Berlin: Siedler

Hopfmann, Arndt (2017). Die Oktoberrevolution und Afrika. Ein Jahrhundert Geschichte, in: marx200, abrufbar unter: http://marx200.org/reichweite/die-oktoberrevolution-und-afrika (letzter Zugriff: 9.2.2018)

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Lwow, Fürst (1964b). Proklamation der Provisorischen Regierung an die Polen, in: Hellmann, Manfred (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, dtv dokumente. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 183–184

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Plener, Ulla (2017). Die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Lenin über die nationale Frage 1903-1918, in: Z.-Zeitschrift marxistische Erneuerung, (109/März 2017), 71–88

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