Die Bedingungen im Russischen Reich unterschieden sich grundsätzlich von denen in den anderen europäischen Ländern. Die Agrarfrage, die nationale Frage und Fragen der Organisation der politischen Arbeit stellten sich hier mit besonderer Schärfe.
Um diese drei Fragen entspann sich eine mehrjährige Debatte, an der auch Luxemburg und Lenin beteiligt waren. Luxemburgs Text zur Russischen Revolution ist ein Beitrag in dieser Diskussion. Für das Verständnis ihrer Positionen „Zur russischen Revolution“ ist zu berücksichtigen, dass Rosa Luxemburg mit drei verschiedenen Traditionslinien der sozialdemokratisch-kommunistischen Bewegung unmittelbar verbunden war: mit der polnischen, der russischen und der deutschen. In allen drei Bewegungen spielte sie eine wichtige Rolle. Darauf hinzuweisen ist wichtig, weil die Bedeutung der hier behandelten Schrift oft mit der Behauptung, dass Rosa Luxemburg die tatsächlichen Geschehnisse in Russland aus der Haft heraus nicht hatte überblicken können, herabgemindert wird. Rosa Luxemburg kannte die hinter dem Herangehen der Bolschewiki stehenden Vorstellungen und Strukturen sehr gut und war an den Diskussionen dazu aktiv beteiligt. Auch wenn sie bestimmte Details nicht gekannt haben mag (was letztlich auf alle an den Debatten Beteiligten im Ausland, allerdings auch in Russland selbst, einschl. Lenins, zutraf), so ist ihre Kritik also als Fortsetzung einer sich über etwa eineinhalb Jahrzehnte laufenden Auseinandersetzung in der europäischen Arbeiterbewegung zu lesen. Und noch eines ist wichtig – sie ist als Kritik im marxschen Sinne zu verstehen, nicht als Herabsetzung der Revolutionäre. Sie wendet sich dagegen, dass die Erfahrungen schematisch und kritiklos übertragen werden – und darin kann sie sich zu diesem Zeitpunkt mit Lenin einig sehen …
Der hier vorliegende Text ist entnommen aus: Schütrumpf, Jörn (Hrsg.): „Rosa Luxemburg oder Der Preis der Freiheit“, Berlin 2010