»Größter Sohn« zwischen Unterhöschen

DDR 1983: Festveranstaltung zu Ehren von Marx Foto: ND Archiv ©

Marx in der DDR - über die Schwierigkeiten des Zurückblickens, politische Legitimation durch Bilder und Debatten in der Nische. Eine Reise ins Jahr 1983. Teil I

Es ist keine einfache Angelegenheit, in einer Weise auf die DDR zurückzuschauen, die der realsozialistischen Wirklichkeit gerecht würde. Was war dieses Land jenseits der politischen Schablonen, abseits der einfachen Raster? Ein lebendiger Widerspruch vor allem - einer zwischen Idee und Praxis, zwischen Wollen und Können, zwischen autoritärer Herrschaft, industrieller Modernisierung und Alltag in der Nische. Sich der Rolle von Karl Marx in dieser DDR zu vergewissern ist auch kein Spaziergang. Man könne es sich leicht machen, von »Verfälschung« und »Herrschaftsideologie« sprechen. Aber dann bliebe diese merkwürdige Mischung aus theoretischem Traditionsbezug und politischer Vereinnahmung, fruchtbarer wissenschaftlicher Debatte und säkularer Partei-Religiosität, Legitimation durch Bilder und Alltagspräsenz, zwischen einer Normalität mit Marx und einer Realität ohne ihn übersehen.

Das gilt umso mehr, als jeder Rückblick auf die DDR in einem Verhältnis zu den heute wirkenden politischen Klischees der Geschichtsschreibung steht; umso mehr, als dass sich daraus Konsequenzen der Betrachtung, der Einordnung speisen, als dass es zwischen biografischer Erfahrung derer, die »dabei gewesen« sind, und nachträglichem Urteil immer eine konfliktreiche Spannung geben wird. Insofern auch folgende Anmerkung: Der Autor war 1983 neun Jahre alt, er besuchte seinerzeit eine Polytechnische Oberschule im Ostteil Berlins, das zu Hause war »systemloyal« und in der Wohnung standen die »blauen Bände«. Und: Der folgende Text könnte durchaus das Prädikat »Thema verfehlt« erhalten, denn am Anfang stand eine ganz andere Bitte - nämlich: einen kurzen Beitrag über die Behandlung von Marx im Zentralorgan der SED beizusteuern. Ein paar Tage im Archiv von »Neues Deutschland« sorgten dann allerdings für diverse Abwege. Und für die Idee, das Jahr 1983 als historischen Hintergrund auszuwählen.

Wie also war das damals mit diesem Karl Marx? Wo fängt man an auf der Suche nach ihm in der DDR? Bei den Bildern? Es gehört zur Tragik des realsozialistischen Scheiterns, dass es für dessen nachträgliche Illustration so viel Material gleichsam schon auf Vorrat produzierte und damit eine Ästhetik des Erinnern, in dem schon der abfällige Lacher steckt. Zum Beispiel die lange Schlange der auf knappe Waren Wartenden vor einem Geschäft für Obst und Gemüse in Weimar, in dessen Schaufenster anlässlich des Marx-Jahres 1983 über Pyramiden von Einweckgläsern ein Konterfei des »Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus« mit den Worten prangt: »Karl Marx lebt in uns und unseren Taten.« Jaja, spricht da sogleich das verallgemeinerte Urteil über die DDR im Kopf, einen der größten Ökonomen aller Zeiten abfeiern, aber nicht aus der Mangelwirtschaft herauskommen!

Bilder wie auch jenes von den beiden älteren Damen in einem Thüringer Dorf drängen sich auf, die sich unter einem Plakat auf einer Bank sitzend in Kittelschürze unterhalten: »Unter Führung der SED - vorwärts zu neuen Erfolgen im Karl-Marx-Jahr 1983!« Oder jenes vom Schaufenster eines Geschäfts für Damenwäsche, in dem »der größte Sohn des deutschen Volkes« zwischen Unterhöschen und Schlafkleidern drapiert worden war, um die Mitteilung zu machen, dass »in der Deutschen Demokratischen Republik« die »Idee von Karl Marx verwirklicht« werden. Es sind Bilder, die aber noch einen anderen Schluss zulassen: dass eine bestimmte Ikonografie von Marx im Alltag als so selbstverständlich erachtet wurde, dass den meisten die Ironie solcher Konfigurationen gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Warum sollte es lustig sein, den alltäglichen Verrichtungen nachzugehen, wenn im Hintergrund Propaganda der SED hing? Aus einer bestimmten, der damaligen Zeit entsprechenden Sichtweise hätte man doch auch gar nicht den Theoretiker, den Autor, den Kritiker, den Philosophen, den Ökonomen, den Politiker Karl Marx auf diesen Plakaten »gesehen«, sondern eine der »üblichen Figuren« jener Symbolik des Status quo, die umso weniger wahrgenommen wurde, je omnipräsenter sie sich gab.

Was da zwischen Reizwäsche und leeren Obstregalen ausgestellt wurde, natürlich auch auf Briefmarken, an Hauswänden, riesenhaften Propaganda-Aufstellern, war gewissermaßen ein Nicht-Marx, eine Figur, die zwar diesen Namen trug und so aussah, die aber in Wahrheit keine theoretische, wissenschaftliche, ökonomische Botschaft trug, sondern lediglich die, dass sich die SED auf Marx beruft. Warum sie das tat, ob das berechtigt war, auf »welchen Marx« sie ihre Politik zu gründen beanspruchte, welchen Widerspruch zur in der DDR realen Praxis es gab - all das war aus dieser Nicht-Person entfernt worden. »Unter dem Banner von Karl Marx für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt.« Oder, je nach aktuellem Bedarf, für etwas anderes.

Dieser Nicht-Marx war natürlich nicht der einzige Marx in der DDR. Es gab ihn darüber hinaus als Bezugspunkt ganz unterschiedlicher Qualitäten, Entfernungen, Verbiegungen: einen allgemein akademischen, einen ökonomischen, den man mit dem planwirtschaftlichen nicht verwechseln darf, einen philosophischen, einen der Herrschaftsideologie im engeren Sinne, einen auf eine noch ganz andere Weise propagandistischen, einen taktischen, mit dem sich wie hier noch gezeigt werden wird auch außenpolitische Teppiche ausrollen ließen, einen philologischen, einen westlichen, auf den man sich im Kleinen bezog und im Großen vielleicht das Plurale daran ersehnte, einen biografischen insofern, als dass viele Menschen in der DDR sich berufsmäßig fast ausschließlich mit Marx befassten. Es gab einen Marx an der Schule, einen für Kinderbücher, einen journalistischen, einen der Produktionsinitiativen und so fort. Ungezählte Ökonomen wurden an Marx geschult, um in der Praxis in den Kombinaten und Planbehörden dann zu erfahren, wie weit die »Verwirklichung« seiner Theorie von der politischen Praxis in der DDR entfernt war.

Auf einen Teil dieser Marx-Vielfalt, den größeren wohl, könnte sogar das Unwort Marxismus passen, sofern der vielgestaltige Versuch damit gemeint ist, aus dem Marx etwas zu machen, womit der sich nicht einverstanden erklärt hätte: »Je ne suis pas Marxiste.«

Zugleich geht die Formel, Marxismus in der DDR sei grosso modo eine Herrschaftsideologie gewesen, dem Zerrbild einer Homogenität auf den Leim, die es auch in der DDR nicht gab. Andererseits ist verständlich, dass wegen der Substanz und des Ausgangs ihrer Geschichte jeder Rückblick dazu neigt, die Grenzen der an Karl Marx orientierten wissenschaftlichen Debatte in den Vordergrund zu rücken (und damit auch ein Urteil über die restliche »Marxerei« zu fällen, jene der Selbstlegitimationsbilder, der »Verwirklichung der Lehren«, des Bindestrich-Leninismus und so fort). Bisweilen wird die Klage über die Rolle von Marx in der DDR mit der spekulativen Hoffnung versehen, hätten sich die SED-Oberen den Marx doch anders, kritischer, »richtiger« zu eigen gemacht, dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Hätte es dann auch andere Bilder von der DDR gegeben?

Wie es weitergeht? Lesen Sie in Teil II über den heiligen Karl, die Verwandlung einer Weltanschauung in ein Religionssurrogat und eine Feststellungsfestveranstaltung.

Lesetipp: »Wir hätten es wagen müssen«. Erika Maier war Professorin für Politische Ökonomie des Sozialismus in der DDR. Ein Gespräch über Karl Marx, die Planwirtschaft und gescheiterte Reformversuche im neuen deutschland (29. April 2017).