„Neue Marx-Aneignung“ seit den 1960er Jahren
Die „Neuen Marx-Aneignungen“, die nach dem 2. Weltkrieg vor allem, aber nicht nur, im globalen Westen aufkommen, werden mit dem gesellschaftlichen Auf- und Umbruch Ende der sechziger Jahre verbunden – StudentenInnenbewegungen, Bürgerrechtskämpfe, „Neue Linke“. Diesem „1968“ folgte das „roten Jahrzehnt“ der 1970er Jahre, das mit dem „Deutschen Herbst“ zumindest in der bundesrepublikanischen Geschichte bereits wieder endete. Seit diesem mit dem Signum 1968 verbundenen Einschnitt hat es keinen vergleichbaren Umbruch in den Theorien und Debatten nach Marx mehr gegeben. Die nachfolgenden Diskussionen und Theoriebildungen bilden eher Fortführungen und Verzweigungen dieser neuen Aneignungen.
Eine „Neue Marx-Aneignung“ – zunächst auch mit dem Sammelbegriff Neo-Marxismus bezeichnet – fand vor allem in den westlichen Industrienationen statt, aber auch in den Nischen des Realsozialismus. Ja, letztlich war eine neue Marx-Aneignung ein weltweites Phänomen. Sie grenzt sich einerseits vom Umgang mit Marx in den realsozialistischen Staaten sowie in den sozialistischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien und Organisationen im Westen ab, andererseits war sie eine Rückkehr zu den Texten von Marx.
Diese Rückkehr wurde durch die Diskussionen des Westlichen und heterodoxen Marxismus gleichsam schon vorbereitet. Vor allem das Kapital und die Texte, die in seinem Umfeld entstanden wie die Grundrisse und die Theorien über den Mehrwert, werden nun neu und anders gelesen. Die neue Marx-Aneignung betrieb aber keineswegs nur die Rückkehr zu einem „authentischen“ Marx, und sie beschränkte sich auch nicht auf eine bloße Re-Lektüren seines Werks. Charakteristisch für die neue Marx-Aneignung ist auch die Suche nach neuen Formen des Sozialen, Politischen und Kulturellen und nach anderen Formen der Wissensaneignung und der Bildung. Das hatte wiederum praktische Konsequenzen, nicht zuletzt in denjenigen Kreisen, welche diese Marx-Aneignung nun vorantrieben: von der Selbstorganisierung in Lese- und Projektgruppen über die Reform der traditionellen kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Repräsentationsformen bis zu neuen Organisationsweisen jenseits der Partei- und Bewegungstraditionen der Linken.
Kurzum, sowohl die inhaltliche Erneuerung im Bereich des Marxismus als auch die neuen Formen der Marx-Aneignung fanden nun vor allem im Umfeld dessen statt, was allgemein als „Neue Linke“ oder „Neue Soziale Bewegungen“ bezeichnet wird. Die Marx-Aneignung war mithin weniger rein akademisch motiviert, treibend war eher das Bedürfnis nach neuen sozialen, politischen und kulturellen Praxen sowie nach einer Aktualisierung, die Marx‘ Kritik ins Verhältnis setzt zu der sich konsolidierenden Nachkriegsgesellschaft, zu den Entwicklung in der Massen- und Pop-Kultur und in den Geschlechterverhältnissen, zum Realsozialismus, zu den Naturverhältnissen und der Ökologie usw.
Mit dieser neuen Marx-Aneignung beginnt endgültig eine Pluralisierung, Vervielfältigung und Fragmentierung. Im Zuge dessen haben sich regelrechte Lesarten herausgebildet, d.h. relativ eigenständige Methoden der Marx-Aneignung und hier wiederum besonders des Kapital. Entstanden sind etwa strukturale, post-strukturale und dekonstruktive Lesarten, operaistische, post-operaistische und biopolitische Lesarten, werttheoretisch-formanalytische Lesarten, praxisphilosophische Lesarten und gramscianische Lesarten – um nur die bekanntesten zu nennen. Sie sind stark vom jeweiligen politisch-sozialen und ideengeschichtlichen Kontext der Länder ihrer Entstehung bestimmt, der oft bis heute in den Marx-Lesarten erkennbar ist.
Mittlerweile wird ein Strang dieser neuen Marx-Aneignung als „Post-Marxismus“ bezeichnet. Auch wenn er mitunter mit dem endgültigen Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 in Verbindung gebracht wird, hat er sich bereits Ende der 1970er Jahre herausgebildet und ist stark von der französischen Philosophie beeinflusst. Dazu werden Texte gezählt von z.B. G. Deleuze, A. Negri, J. Derrida, G. Agamben, A. Badiou, A. Balibar, J.-L. Nancy, J. Rancière, F. Guattari, E. Laclau, Ch. Mouffe, A. Negri oder S. Žižek
Vor allem seit dem endgültigen Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 sind in der an Marx orientierten Gesellschaftskritik neue Themen dazugekommen: Die Politik des Neoliberalismus und die Ökonomie des Finanzkapitalismus, die sog. Globalisierung, neue Kriege, die neuen Technologien und Medien, Ökologie und Klimawandel etc. Im Gegensatz zu den 1960er und 1970er ist die Marx Diskussion jedoch nicht mehr getragen von einer weltweiten Situation des Um- und Aufbruchs. Konnte sich die Diskussion damals noch an den Universitäten etablieren, so findet die Marx-Aneignung nur mehr in bestimmten Nischen statt, oft gänzlich außerhalb der Universitäten und der klassischen politischen Organisationen, mitunter sogar in isolierten Einzelanstrengungen. Allerdings gibt es auch eine zunehmende Internationalisierung der Marx-Diskussion.